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Auf Orwells Spuren

Happy hour in Wigan

Happy hour in Wigan

Wer eine Antwort sucht, warum der verschrobene Sozialist Jeremy Corbyn als Chef der Labour-Partei durchgeht, wird in Wigan fündig - einer heruntergekommenen Arbeiterstadt in Nordengland.

Auf dem Weg zum Wigan-Pier, den George Orwell 1936 in seiner bitteren und brillanten Sozialreportage „The Road to Wigan Pier“ beschrieben hat, steht ein Regenbogen aus bunten Luftballons. So fröhlich präsentiert sich ein Autohaus zwei jungen Frauen, die auf hohen Absätzen an ihm vorbei ins Stadtzentrum schreiten. Sie lassen die Ballons links liegen. So schnell wird hier kein Auto gekauft. Außerdem ist jetzt gleich Happy Hour in Harry’s Bar oben an der Hauptstraße.

Wigan ist ein trauriges Museum seiner selbst. Im 19. Jahrhundert war die Stadt zwischen Manchester und Liverpool ein Paradebeispiel der englischen Industrialisierung: Textilfabriken und Kohlebergwerke liefen auf Hochtouren. Das Proletariat in der Stadt schwoll an. Die Ausbeutung der Arbeiter in Fabrikhallen und Bergwerksschächten war gewaltig. Die soziale Misere gebar den Sozialismus. Orwell erwähnt in seiner Reportage aus Wigan noch in den 1930er Jahren Reihen von „Abbruchhäusern“, in denen Mieter ewig weiter wohnten, weil für ihre Umsiedlung und den Neubau von Sozialwohnungen Platz, Budget und politischer Wille fehlten. Bis heute ist der arme Norden Englands der fruchtbarste Boden für die Labour-Party.

Die traditionsreiche Arbeiterpartei trat daher vergangene Woche in Liverpool zur Parteikonferenz zusammen. Das fünftägige Treffen wurde zum Triumph für den wiederbestellten linken Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Die kritischen Vertreter des alten „New Labour“-Kurses wurden vorerst zum Schweigen gebracht. „In dieser Partei müssen wir es nicht mehr flüstern“, rief Corbyns engster Vertrauter und Schattenschatzkanzler John McDonnell mit erhobener Faust: „Unsere Vision heißt Sozialismus.“ Der Chef selbst versprach einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.

Fast prophetisch präzise hat George Orwell vor achtzig Jahren den Typus des mittelständischen Politikers beschrieben, der heute die traditionelle Labour-Party führt: „Ein überkorrekter Mann, ein Abstinenzler mit vegetarischer Tendenz und einer Geschichte der Non-Konformität.“ Corbyn hat als Abgeordneter in 32 Jahren mehr als 500 Mal gegen die eigene Parteilinie gestimmt, Vegetarier und Abstinenzler ist er auch.

Vor allem im Norden Englands finden ihn viele richtig gut. „Jeremy vertritt uns wirklich, er hat das Herz am rechten Fleck“, sagt Zafar Khan, ein Taxifahrer in Wigan, dessen Familie aus Pakistan stammt. Seine Frau Hasina ist die erste moslemische Frau, die 2006 zur Gemeinderätin in Chorley, einem Städtchen ein paar Kilometer von Wigan, gewählt wurde. „Man muss robust sein. Es hat lange gedauert, bis ich akzeptiert wurde“, erzählt die Labour-Politikerin. „Ich war als Frau, als Muslima und als Asiatin in der Politik Nordenglands eine Ausnahme.“ Seit Mai 2016 gibt es sogar eine zweite Frau Khan im Gemeinderat: Hasinas 21jährige Tochter Zara.

In Corbyns Labour-Party fühlen sich die Khans gut aufgehoben. Der ehemalige Friedensaktivist will lieber wieder die Bahn verstaatlichen als weitere militärische Interventionen im Nahen Osten planen. Er will Großbritannien mit weiteren 500 Milliarden Pfund neuverschulden, um in Infrastruktur und Bildung zu investieren. In Westminster gelten Corbyns Ideen als weltfremd und nicht mehrheitsfähig. Hier im Norden aber fühlen sich viele vom Londoner Kapitalismus abgehängt.

Das ließ sich auch am Brexit-Votum ablesen. Die Verunsicherung über hohe Immigration in Kombination mit harter Sparpolitik der konservativen Regierung schlug sich beim EU-Referendum am 23. Juni landesweit nieder, besonders stark aber im Norden Englands. Zwei Drittel von Wigan und Umgebung haben für den Austritt aus der EU gestimmt. Gemeinderätin Hasina Khan hat zwar für den Verbleib votiert, kann aber die Ängste der Leute gut verstehen: „Wenn das Sozialsystem überlastet ist, dann müssen wir die freie Zuwanderung aus der EU eben einschränken.“

Inzwischen dräut den Wiganern, dass sie der Austritt aus der EU ganz schön teuer zu stehen kommen könnte. In den 1980-er Jahren wurden hier von Margaret Thatcher die Kohlebergwerke zugesperrt. Die Textilfabriken folgten. In Asien wurde billiger produziert. Heute fahren die Wiganer zum Arbeiten nach Liverpool oder Manchester. Wie in vielen armen Gegenden Englands hat die EU mit Fördermitteln viel ausgeglichen. „Wir haben uns vielleicht ein bisschen zu hastig für den Brexit entschieden“, meint der Rentner Paul, der vor 30 Jahren frühpensioniert wurde. Seinen Familiennamen behält er für sich, als schäme er sich, dass er für den Austritt aus der EU gestimmt hat.

Lisa Nandy ist die Labour-Abgeordnete für Wigan. Die 37 Jahre alte Politikerin hat selbst hart für den Verbleib in der EU gekämpft: „Jetzt muss ich erst einmal herausfinden, wie viele EU-Gelder wir verlieren werden“, seufzt sie. „Da geht es nicht nur um Subventionen für unser College, es geht um wohltätige Organisationen und Förderungen aus verschiedenen EU-Fördertöpfen.“ Streitbare, energetische und links von der Mitte stehende Abgeordnete wie Nandy würden mit der Tory-Regierung gerne hart ins Gericht gehen. Ihr Problem: Der eigene Partei-Chef hat nur sehr lauwarm für den Verbleib in der EU geworben. Offiziell befürwortete die Labour-Partei den Brexit nicht, Jeremy Corbyn ist aber seit jeher als linker EU-Skeptiker bekannt. Seine Parlamentsfraktion machte ihn für das Brexit-Votum mitverantwortlich und sprach ihm Ende Juni das Misstrauen aus. Auch die junge Parteihoffnung Lisa Nandy trat damals aus Corbyns Schattenkabinett aus. „Es war eine schwierige Entscheidung“, sagt sie heute. Corbyn und seine Berater hätten lieber eine Parteispaltung in Kauf genommen, als Kritik an ihrer Linie zu akzeptieren: „Die glauben, sie sind im Krieg.“

Nandy mag zwar Corbyns Politik. Doch sie lehnt die sektiererischen Methoden ab, mit denen die neue Führung moderate Kritiker ausgrenzt. Corbyn wurde nach einem sommerlichen Wahlkampf am Willen der Labour-Parlamentsfraktion vorbei zum Chef gekürt. Linke Gruppen wie die „Socialist Workers Party“ haben mit der Pro-Corbyn-Bewegung Momentum eine effiziente außerparlamentarische Plattform geschaffen. Den Labour-Chef durften nicht nur Mitglieder, sondern auch Sympathisanten wählen.

Einerseits bringt das frischen Wind in die Partei, andererseits kehrt auch der Mief der 1970-er Jahre zurück. Damals drohte man bei ideologischen Differenzen schnell mit Rauswurf und Spaltung. Zur Zeit geht es so hart her, dass schon mal ein Ziegelstein durch ein Bürofenster geworfen wurde. „Früher wurde ich von der extremen Rechten persönlich bedroht“, meint Lisa Nandy, „in letzter Zeit kamen die Beleidigungen aus den eigenen Reihen“.

Im hohen Norden beobachtet man die Intrigen in Westminster mit einer gewissen Distanz. „Jetzt folgen wir erst einmal dem Vorsitzenden“ meint Hasina Khan, „es gibt schließlich genug zu tun.“ Da hat sich in Wigan seit 1936 nicht viel verändert. George Orwell notierte damals: „Die Sozialisten haben hier eine große Aufgabe vor sich.“

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© 2018 Tessa Szyszkowitz