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"Wir müssen uns wehren"

Foto: Alex Schlacher

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Im CICERO-Interview erklärt die britische Fondsmanagerin Gina Miller, warum sie Theresa Mays Regierung dazu gezwungen hat, das Parlament schon zu Beginn des Brexit-Prozesses über die Auslösung des Artikel 50 abstimmen zu lassen.

Die 51jährige Fondsmanagerin Gina Miller hat gemeinsam mit dem Friseur Deir Dos Santos eingeklagt, dass die Regierung das Parlament befragen muss, bevor sie den Artikel 50 des Lissabon-Vertrages auslöst. Am Dienstag gab der Oberste Gerichtshof den Klägern recht. Premierministerin Theresa May muss die Abgeordneten in Westminster über den bevorstehenden Beginn des Brexit-Prozesses diskutieren und abstimmen lassen. Diese Entscheidung ändert nichts am Ergebnis des EU-Referendums. Dennoch erlebt Gina Miller, eine in Guyana geborene Britin, seit ihrem öffentlichen Eintreten für die Rechte des souveränen britischen „House of Commons“ eine Welle an Anfeindungen.

Cicero: Sie haben beim EU-Referendum im Juni 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt. Haben Sie deshalb die Regierung vor das Gericht gebracht, um den Brexit zu verhindern?

Miller: Ich habe dafür gestimmt, in der EU zu bleiben. Doch wir haben verloren, also müssen wir uns jetzt in der neuen Lage zurechtfinden. Bei meiner Klage ging es nicht um Brexit an sich, sondern um den Prozess. Wenn das Parlament dein Souverän ist, dann musst du das Parlament befragen, bevor du einen entscheidenden Schritt machst. Und das tun wir, wenn wir aus der Europäischen Union austreten. Wenn eine Politikerin damit nicht einverstanden ist, sollte sie den Job wechseln.

Cicero: Theresa May hat inzwischen angekündigt, dass das Parlament sowieso am Ende des Verhandlungsprozesses über den Brexit-Deal abstimmen darf. Hat Ihnen das nicht gereicht?

Miller: Mir geht es nicht um das Ende des Brexit-Prozesses, sondern um den Anfang. Das Parlament soll jetzt über die Auslösung des Artikel 50 diskutieren und abstimmen. Theresa Mays Brexit-Rede vorige Woche war nicht detailliert genug. Was bedeutet der Austritt aus der EU für unsere Landwirtschaft? Was heißt er für unsere Wissenschaften, für unsere Schulen und unsere Sicherheit? Gute Entscheidungen kann man nur treffen, wenn man vorher verschiedene Meinungen hört. Sonst können die Abgeordneten nur blind ihre Stimme abgeben.

Cicero: Theresa May hat bisher allerdings darauf bestanden, dass sie in jedem Fall Ende März den Artikel 50 auslösen will. Da beide große Parteien ihre Abgeordneten anweisen, dafür zu stimmen, beginnt der Brexit-Prozess mit Sicherheit. Was sollen die Abgeordneten Ihrer Meinung nach tun?

Miller: Die Abgeordneten sollen ihre Arbeit machen und im Interesse ihre Wähler abstimmen, nicht im Interesse ihrer Parteien. Wir brauchen ein richtiges Gesetz, das unseren Beitrittsakt von 1972 widerruft. Sollte die Regierung etwas anderes entscheiden – nur eine Resolution oder einen Antrag, oder falls sie das Oberhaus, das „House of Lords“ umgehen will – dann werde ich sie wieder vor Gericht bringen. Wegen Missachtung des Gerichts.

Cicero: Seit der Rechtsstreit im Juli begann, werden Sie beleidigt und bedroht. Woher nehmen Sie die Zivilcourage?

Miller: Mir wurde geraten, die Klage nicht durchzuziehen. Doch als ich diese schrecklichen Geschichten gesehen habe von Leuten, die hier in Großbritannien die schlimmsten xenophoben Ausschreitungen erleben mussten, da dachte ich: Wir müssen uns wehren. Wenn wir uns dagegen nicht wehren, wenn wir diese Vorurteile nicht bekämpfen, dann werden sie so stehenbleiben. Wir müssen uns dagegen aussprechen. Wir müssen uns für die Bildung der Leute einsetzen. Wir haben nur eine ungeschriebene Verfassung. Wir müssen unsere Rechte verteidigen, sonst könnten Politiker sie uns in Zukunft einfach wegnehmen.

Cicero: Theresa May will wahrscheinlich einfach nur den Brexit durchziehen und fühlt sich durch zu viel Diskussion gestört.

Miller: Beim Brexit geht es nur noch um Gefühle. Brexit ist wie eine Religion. Jede Vernunft scheint aus dem Fenster geworfen worden zu sein. Es gibt richtige Angst unter den Leuten, die sonst öffentlich auftreten. Seit ich im Juli von den Richtern zur Hauptklägerin ernannt wurde, hat mich kein einziger Politiker kontaktiert. Akademiker und verschiedene andere Leute haben mir hinter den Kulissen geholfen. Doch niemand hat mich öffentlich unterstützt.

Cicero: Werden Sie jetzt als nächstes zu einem zweiten Referendum aufrufen?

Miller: Es gibt so viele verschiedene Optionen. Wir müssen erst mal sehen, wie die Wahlen auf dem europäischen Kontinent ausgehen – vielleicht sind die Leute, mit denen wir am Ende verhandeln werden ganz andere als die, mit denen wir es jetzt zu tun haben. Wir wissen auch nicht, was hier bei uns passieren wird. Vielleicht gibt es vorgezogene Wahlen? Oder Schottland entscheidet sich für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum? Ich fand es jedenfalls bedauerlich, dass Theresa May in ihrer Brexit-Rede der EU gedroht hat. Drohungen sind unnötig.

Cicero: Theresa May sagte auch, dass Großbritannien den Europäischen Binnenmarkt verlassen würde.

Miller: Ich glaube nicht, dass die Leute dafür gestimmt haben, als sie den Austritt aus der EU wählten. Ich habe inzwischen viele Nachrichten von Brexitieren bekommen, die meinten: „Wir unterstütze Ihre Klage, weil wir keinen harten Brexit wollen.“ Ich bin mir auch nicht sicher, dass Immigration tatsächlich so eine große Rolle spielt, wie Theresa May uns glauben machen will. Ich würde da gerne genauere Daten sehen.

Cicero: Müssen Sie in der aufgeheizten Stimmung nicht um Ihre Sicherheit fürchten?

Miller: Unser Familienleben hat sich verändert, das stimmt. Ich habe das unterschätzt. Ich bekomme ganz schreckliche, bedrohliche Briefe. Die Polizei nimmt die Drohungen sehr ernst. Wir gehen am Wochenende nicht aus. Ich benütze derzeit keine öffentlichen Verkehrsmittel. Meine Kinder betreten ihre Schule durch einen Nebeneingang. Doch unsere Welt ist schnelllebig. Nachdem der Fall jetzt entschieden ist, wird sich wohl alles normalisieren.

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© 2018 Tessa Szyszkowitz