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Groß- oder gebrochenes Britannien?

Theresa May als Bedrohung. Linkes Wahlplakat in London.

 Theresa May als Bedrohung. Linkes Wahlplakat in London. 

http://cicero.de/weltbuehne/nach-dem-terror-vor-der-wahl-gross-oder-gebrochenes-britannien

Noch sind die Opfer des Anschlags in Manchester nicht bestattet, da gibt es in London die nächste Attacke. Der Terror zermürbt Großbritannien. Kurz vor der Wahl mehren sich die Zweifel an Premierministerin Theresa May. Aber auch ihr Kontrahent hat ein Kompetenzproblem

Am Montag wurde das erste Opfer von Manchester auf der schottischen Insel Barra begraben. Auf Dudelsackpfeifen spielten Trauernde jene Stücke, die Eilidh MacLeoad gerade geübt hatte, bevor die 14-Jährige mit 21 anderen am 22. Mai bei einem Popkonzert der US-Sängerin Ariana Grande von einem islamistischen Selbstmordbomber ermordet worden war.

Noch sind die Opfer des Terroranschlages von Manchester nicht bestattet, da sind die Briten bereits mit der nächsten Attacke konfrontiert. Sieben Tote und 48 Verletzte sind die tragische Bilanz einer terroristischen Operation vom späten Samstag Abend an der Londoner Tower-Bridge und dem Borough-Markt. Der Islamische Staat hat die Verantwortung übernommen, das Netzwerk der Dschihadisten wird gerade ausgeforscht, Sondereinheiten durchsuchen Häuser in Ostlondon, elf Menschen sind in Haft.
Harte Probe für britische Gelassenheit

Wer kann da noch von „Keep calm and carry on“ reden? Die britische Gelassenheit ist mit diesem dritten Terroranschlag innerhalb von drei Monaten schwer auf die Probe gestellt worden. Wie bei dem Anschlag auf der Westminster-Brücke am 22. März wurde ein gemietetes Auto zur mörderischen Waffe. Damals war es ein Einzeltäter, an diesem Samstagabend sprangen gleich drei Attentäter nach der Todesfahrt aus dem Lieferwagen und stachen mit Messern auf Pub-Besucher im Borough-Markt ein. Der Wahlkampf für die vorgezogenen Parlamentswahlen am 8. Juni wird jetzt natürlich von der Frage dominiert, wie man diesen Terrorismus der Automörder und Messerstecher in den Griff bekommen kann. „Vergiss Großbritannien”, sagt eine verzweifelte Londonerin „wir sind doch nur noch das Gebrochene Britannien.”
Erfahrung wird May zum Verhängnis

Kann Theresa May als Regierungschefin ihren Landsleuten glaubhaft versprechen, nach ihrer Wiederwahl für Sicherheit und Stabilität sorgen zu können? Ihre größten Handicaps sind plötzlich ihre Erfahrung und ihre bisherige politische Laufbahn. Sie war von 2010 bis 2016 Innenministerin und hat sämtliche Kürzungen der Sparregierung von David Cameron mitgetragen. Es gibt heute 19.000 Polizisten weniger als 2010. Und nicht allein die Beamtenzahl wurden gekürzt. Obwohl die Terrorgefahr durch den Krieg des sogenannten Islamischen Staates in Syrien sich seit 2011 erhöht hatte, wurde das Budget für Polizei- und Sicherheitsdienste über Jahre zusammengestrichen. „Wir haben davor gewarnt”, sagt Steve White von der englischen Polizeiföderation, „dass ständige Kürzungen dazu führen werden, dass wir jene, die wir beschützen wollen, nicht mehr beschützen können – die Bürgerinnen und Bürger.”
Sind acht Minuten schnell genug?

Die drei Attentäter waren innerhalb von acht Minuten von bewaffneten Polizisten im Borough-Markt erschossen worden. Ist das schnell genug? Sollte man mehr Soldaten zum Schutz der Zivilbevölkerung einsetzen? Wird man von der britischen Tradition abgehen, den Londoner Bobbies statt einem Gummiknüppel doch Schusswaffen zu gewähren? Wie kann man die Deradikalisierung junger Muslime effektiver gestalten? „Wir müssen ganz unten anfangen und Vertrauen aufbauen” sagt Extremismus-Expertin Zubeda Limbada von „Connect Futures” aus Birmingham. Wer aber hat jetzt dafür Zeit und Geld?
Corbyn: May soll zurücktreten

In diesen letzten Tagen vor den Wahlen am 8. Juni wird Trauer und Wut über die Terrorwelle zum Politikum: „Theresa May sollte zurücktreten. Polizei und Sicherheitsdienste brauchen nicht weniger, sondern mehr Mittel”, rief Labour-Chef Jeremy Corbyn am Montag unter einem roten Regenschirm hervor, auf den der Regen prasselte. Als klassischer Linker tritt der 68-Jährige für größere Ausgaben im öffentlichen Bereich ein, bezahlt werden soll dies mit höheren Steuern auf Reiche. Bei den Stahlarbeitern in Marlborough hat er da gute Karten. Dass der Pazifist über Jahrzehnte im Parlament stets gegen Antiterror-Gesetze gestimmt hat, lässt er in diesen Tagen des Terrors lieber unerwähnt.

Theresa May hat es angesichts blutiger Terroropfer auf Englands Straßen nicht leicht, Kürzungen zu verteidigen. In einer Pressekonferenz am Montagmittag versuchte sie aber den Terror zumindest rhetorisch zurückzudrängen und den Brexit wieder zum zentralen Wahlkampfthema zu machen: „Corbyn ist für die Brexit-Verhandlungen in Brüssel nicht geeignet”, las die Regierungschefin von ihrem Redetext ab. „Wir dagegen haben uns die Zeit genommen, unsere Positionen und jene von denen, die auf der anderen Seite des Verhandlungstisches sitzen, zu studieren.”
Auch Zweifel an Kompetenz von Corbyn

Es ist zwar keineswegs klar, welchen Brexit Theresa May selbst anstreben wird und wie die Verhandlungen verlaufen werden. Die Aussicht, dass Jeremy Corbyn die Brexitgespräche leiten muss, sollte Labour die Wahlen gewinnen, schreckt allerdings nicht nur Konservative. Auch im moderaten Labour-Lager gibt es Bedenken, wie Corbyns Team dies schaffen sollte. Zwar hat er in Keir Starmer einen bedachten und respektierten Brexit-Schattenminister. Doch die Labour-Position zum Brexit ist recht schwammig und vom Prinzip her jener der Tories ähnlich: Man will den Willen des Volkes und das Ergebnis des EU-Referendums respektieren und den Austritt Großbritanniens aus der EU möglichst gut aushandeln.

Theresa May empfahl sich vor der Kulisse der Bibliothek in Downing-Street noch einmal eindringlich als einzige Politikerin, die den Deal mit der EU schaffen kann: „Ich trinke nicht in Parlaments-Bars, ich beteilige mich nicht an Klatsch.” Nichts sei jetzt so wichtig wie „starke und stabile Führung”. Ob ihr die Briten dies nach den vergangenen Monaten noch glauben, werden die Wahlen am Donnerstag zeigen.

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© 2018 Tessa Szyszkowitz