Es regnet in London, aber meine Nachbarn sitzen trotzdem mit ihren Kindern und Freunden in ihrer Sukka im Garten und ich höre sie reden und lachen. Sie feiern das Laubhüttenfest. Die Hütte, die für acht Tage aufgebaut wird, hat ein Plastikdach, weil wir hier in England sind, nicht in Ägypten. Man muss sich eben den Gegebenheiten anpassen.
Es ist schon sehr schön, dass es das gibt – eine alte jüdische Tradition, die Freiheit nach dem Auszug aus Ägypten und die Früchte der Ernte zu feiern und zur gleichen Zeit daran zu erinnern, wie fragil diese Errungenschaften sind. Sukkot wird jeden Herbst parallel zum Erntedankfest bzw Thanksgiving gefeiert.
Mir hat es immer gefallen, wie die Juden in Britannien ihre Traditionen mit einem gewissen Selbstbewusstsein feiern. Nicht, dass die Briten keine Probleme haben, Antisemitismus gibt es hier in einer alten, englischen und einer neuen, britischen Spielart. In London aber fühlt er sich aus historischen Gründen nicht so existentialistisch an wie in Wien. Schließlich sind viele Juden vor den Nazis hierher geflüchtet.
In diesen Tagen vor den österreichischen Nationalratswahlen finde ich es wieder im höchsten Maße irritierend, wie österreichische Politiker es erneut geschafft haben, antisemitische Codes in ihrem Wahlkampf zu verwenden.
Die regierende SPÖ unter Christian Kern hat den israelischen Berater Tal Silberstein engagiert, der offenbar Facebook-Seiten in Auftrag gegeben hat, die Kurz zum Beispiel konspirativ mit dem Financier George Soros zeigten. Das sollte Außenminister Sebastian Kurz schaden. In Antwort auf diese bedauerliche Affäre erklärte der 31jährige Kurz, der am Sonntag Regierungschef werden will, die Wahlen zu einer „Volksabstimmung“ darüber, ob „wir die Silbersteins und andere wollen“. Der ehemalige grüne, jetzt unabhängige linkspopulistische Peter Pilz schaffte es daraufhin, nach einem „Silberstein-freien Land“ zu rufen.
Bei solchen Politikern braucht man keine FPÖ mehr. Deren Chef Heinz-Christian Strache versuchte jetzt auch noch schnell, mit dubiosen Aussagen über “Verstrickungen” eines jüdischen Geschäftsmannes mit Kurz & Kern zu punkten.
Alle involvierten Politiker sagen, sie seien keine Antisemiten. Das mag so sein. Aber es ist kein Zufall, dass österreichische Politiker antisemitisches Coding verwenden. Als Wiens Bürgermeister Karl Lueger Ende des 19. Jahrhunderts Antisemitismus als politische Kategorie in seinen Wahlkampf einführte, hat er eine destruktive Tradition begründet, die nach Auschwitz führte – schließlich hat Adolf Hitler das politische Klima in Wien als junger Mann erlebt.
Wissen diese Politiker wirklich nicht, was es heisst, „die Silbersteins“ aufs Tapet zu bringen? Habt ihr vergessen, wie fragil unsere Zivilisation ist? Auch die Sprache ist Teil unserer politischen Kultur, sie drückt aus, wer in einer Gesellschaft geschützt wird, und wer als “die anderen” bezeichnet wird und keinen Anspruch darauf hat. Es ist mir nicht verständlich, wie österreichische Politiker heute nicht genug Stolz und Sensibilität aufbringen – ja, und auch historisches Wissen und Bewusstsein – um sich selbst von den Fallen fernzuhalten, die ihre kulturelle DNA ihnen stellt. Wenn sie nicht wissen, wo sie herkommen, dann kann man ihnen die Zukunft Österreichs nicht anvertrauen.