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Die britische Wirtschaft leidet unter dem Brexit-Votum. Mit einer Stabilisierung wird erst nach Jahren zu rechnen sein, wenn der britische Ausstieg aus der EU vollzogen und neue Abkommen geschlossen wurden.
Was ist das erste Eingeständnis von Problemen? Wenn der oberste Währungshüter ein Paket an Maßnahmen präsentiert, das die Wirtschaft stabilisieren soll. Es wird erwartet, dass Mark Carney, Chef der Bank of England, am 4. August genau das tun wird. Dem Vernehmen nach will er etwa die Leitzinsen senken, um dem Brexit-Schock entgegenzuwirken.
Seit 52 Prozent der Briten am 23. Juni bei einem Referendum für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU gestimmt haben, herrscht große politische und wirtschaftliche Unsicherheit im Vereinigten Königreich. Die neue Premierministerin Theresa May versucht mit kühlem Kopf das Chaos nach dem Brexit-Votum zu managen. Scharf beobachtet wird sie dabei von Finanz- und Wirtschaftbossen. Denn die ersten Folgen des Brexit-Votums machen sich bereits bemerkbar.
Im Frühling war die britische Wirtschaft mit 0,6 Prozent noch knapp gewachsen. Für die kommenden Monate aber wird eine Rezession erwartet. Die britische Industrie darf zwar durchaus auch hoffen, dass sie aufgrund des schwächeren Pfunds, das am 24. Juni um zehn Prozent seines Wertes gefallen war, die Exporte stärken wird können. Es dürften auch mehr Touristen nach London kommen, da ein Besuch jetzt nicht mehr so exorbitant teuer ist.
Doch es ist vor allem die Unsicherheit, die viele Geschäftsbereiche schädigt. Die britische Bank „Lloyds Banking Group“ hat Ende Juli die Entlassung von 3000 Beschäftigten angekündigt und plant, 200 Filialen zuzusperren. Teilweise ist dies direkt dem Brexit geschuldet. International tätige Banken wie HSBC haben schon vor dem Referendum angekündigt, im Falle eines Austritts tausende Jobs in die bereits existierenden Büros nach Frankfurt, Paris oder Dublin zu verschieben.
Bisher warten die meisten Finanzinstitute ab, welchen Status die Londoner City nach dem Brexit bekommt. Für große US-Banken wie Citibank hatte London bisher einen großen Vorteil: Die britische Metropole war das größte Finanzzentrum in Europa in einer englischsprachigen Stadt mit freiem Zugang zur EU. Dieses sogenannte Recht des „Passporting“ aber wird es bald nicht mehr geben. Die Büros in EU-Finanzstädten werden deshalb aufgestockt.
Der britische Immobilienmarkt ist ebenfalls schwer unter Druck – bei den bisher in London komplett überteuerten Hauspreisen ist dies insgesamt nicht nur negativ. Briten, die sich irgendwann doch noch ein Haus in ihrer Hauptstadt leisten wollen, dürften sich darüber freuen. Auch private Investoren aus Asien und dem Nahen Osten nützen das „Brexit-Fenster“ derzeit für Investitionen in Hotelprojekte und Privatvillen. Das Pfund ist weniger wert, die Objekte billiger. Institutionelle Investoren dagegen warten ab, wie sich die Post-Brexit-Ära anlässt. Für die Industrie der Baumeister und Kreditgeber hiess es schon in den Monaten vor dem Brexit, den Gürtel enger zu schnallen: Es gab 29 Prozent weniger Hausabschlüsse in London. Die größte landesweite Wohnungs-Agentur Countrywide warnt: „Die Periode der Unsicherheit wird in den kommenden Monaten weitere Transaktionen sicher behindern.“
Selbst die Autoindustrie leidet schon bevor klar wird, unter welchen Bedingungen künftig exportiert wird. In der ersten Hälfte 2016 sahen die Zahlen noch ausgezeichnet aus. 900.000 produzierte Autos, 13 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum vor einem Jahr. 80 Prozent gingen in den Export, die EU war dabei mit 57 Prozent der größte Abnehmer. Mit diesen Erfolgen ist jetzt nach Meinung der britischen Autoindustrie Schluss: „Wegen der zollfreien Ausfuhr in die EU wurde in den vergangenen Jahren viel investiert“, meint Mike Hawes von der Gesellschaft der Motor-Hersteller und Händler, der „Society of Motor Manifacturers and Traders“ (SMMT). „Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt, wirtschaftliche Stabilität und hochqualifizierte Arbeitskräfte waren die Grundlage unseres Erfolges – diese Faktoren zu erhalten muss in den kommenden Jahren Priorität haben.“
Das klingt angesichts der bitteren Realität wie der Hilferuf eines Ertrinkenden. Selbst die britischen Auto-Ikonen Mini und Rolls-Royce gehören seit 1994 bereits dem deutschen Hersteller BMW. Ein Teil der Minis wird heute in Oxford zusammengebaut, ein anderer Teil aber in Österreich. BMW hat im Vorfeld des EU-Referendums die Belegschaft ganz eindeutig aufgefordert, für den Verbleib in der EU zu stimmen. Wenn auch nicht sofort die Zukunft der Fabrik in Oxford selbst auf dem Spiel steht, so sind zumindest weitere Investitionen in Frage – jetzt, wo Britannien für den Brexit gestimmt hat.
Bei den Bauern grassiert der „Regrexit“, berichtete der Earl of Sandwich im britischen Oberhaus: „Wie wird die britische Regierung die Bauern für den Ausfall von EU-Subventionen kompensieren?“, fragte John Montagu aus Dorset: „Man fürchtet geringere Direktzahlungen, weil die Sparpolitik weitergeführt werden soll.“ Die britische Landwirtschaft bezog im Jahre 2013 über drei Milliarden Euro aus den Fördertöpfen der EU.
Cornwall, die ärmste Region Englands mit den bisher höchsten EU-Subventionen, hat mehrheitlich für den Austritt aus der EU gestimmt. Man will aber jetzt trotzdem das Repräsentationsbüro in Brüssel weiterführen, um in Zukunft um Förderungen für Nicht-EU-Regionen anzusuchen.
Die in aller Welt geschätzten britischen Universitäten und Forschungsinstitute sind ebenfalls vom Brexit direkt betroffen. Bisher gibt Großbritannien selbst über sechs Milliarden Pfund für Forschung und Innovation aus, um das Niveau halten zu können. Etwa eine Milliarde an Förderungen erhalten die Bildungsstätten zusätzlich aus EU-Fördertöpfen. Diese Gelder müssen jetzt im britischen Budget gefunden werden.
Wird der Zugang von Studierenden aus der EU nach dem Brexit erschwert? Bisher ist diese Frage völlig offen. In einer Umfrage des Karriere-Beraters Hobsons International haben bereits ein Drittel der Befragten aus aller Welt angegeben, sie würden jetzt lieber nicht in Großbritannien studieren. Zu unsicher ist derzeit, ob Europäer Visa brauchen werden. In den Planungsstäben der Colleges herrscht deshalb Panik. Kommen weniger Auslandsstudenten, dann müssen geplante Investitionen zurückgefahren werden. Denn Nichtbriten zahlen doppelt so viele Studiengebühren.
Theresa May muss in den kommenden Monaten vor allem eines entwickeln: einen Brexit-Verhaltenskodex. Die britische Regierungschefin will zwar den Artikel 50 erst im kommenden Jahr auslösen und damit den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union einleiten. Sie kann aber nicht bis dahin warten, die Regeln für alle Beteiligten zu definieren. Wie lange zahlt das Vereinigte Königreich noch in den EU-Pensionstopf ein und wer zahlt zukünftig die Pensionen für britische EU-Veteranen? 3000 Briten arbeiteten seit 1973 in EU-Institutionen. Insgesamt rechnet Brüssel mit insgesamt 60 Milliarden Euro Pensionsverpflichtung für alle EU-Pensionisten. Acht Prozent davon sind Briten.
Aus der Kakophonie der unterschiedlichen Meinungen der neuen britischen Regierung ist bisher noch kein Leitmotiv herauszuhören, wie die Zukunft ohne EU aussehen soll. „Brexit bleibt Brexit“, sagt Theresa May ganz klar. Doch langsam muss die Frage präziser beantwortet werden, will man die Panik auf den Märkten beruhigen. Brexit-Minister David Davis will einen harten Brexit, Schatzkanzler Philipp Hammond und Außenminister Boris Johnson vertreten eher einen sanften Abgang. Politik-Professor Simon Hix von der London School of Economics gibt Hilfestellung: Das proeuropäische Lager solle sich mit dem Brexit abfinden, meint der Experte für Europäische Politik, gleichzeitig aber eine proeuropäische Brexit-Position besetzen: „Dafür sind nicht nur die 48 Prozent, die für den Verbleib in der EU gestimmt haben, sondern auch mindestens 15 Prozent der moderaten Brexiteers, die eine enge Anbindung an Europa befürworten.“ Das hieße: Britannien würde im Binnenmarkt bleiben, die Freizügigkeit der EU-Migranten könnte eventuell wenig aber nicht drastisch eingeschränkt werden. Damit blieben auch die Rechte der EU-Bürger im Vereinigten Königreich weitgehend gewahrt.
Theresa May ist in jeder Hinsicht in der Zwickmühle. Aus der EU, dem natürlichen Habitat der britischen Wirtschaft, muss sie sich dem Willen des Volkes gemäß zurückziehen. Doch die unter ihrem Vorgänger David Cameron von dessen Schatzkanzler George Osborne eingeleitete Hinwendung zu China ist ihr auch nicht recht. Als Innenministerin hat sie sechs Jahre lang gelernt, Sicherheit über alles andere zu stellen. Deshalb hat sie das 21 Milliarden Euro schwere Großprojekt Hinkley Point erst einmal kühl auf Eis gelegt. China sollte die Atomstrom-Fabrik in Somerset zu einem Drittel finanzieren, die französische Stromfirma EDF zu zwei Drittel. Theresa May fürchtet eine mögliche Energieerpressung der Chinesen und will die Risiken erst einmal abwägen.
Für die britische Wirtschaft wird die Zukunft dadurch nicht rosiger. Wenn Theresa May weder die gelben EU-Sterne auf blauem Grund noch die gelben Sterne auf dem kommunistischen Rot der chinesischen Flagge für ihr Land gutheißen kann, wohin soll sich Großbritannien dann wenden?