„Netanjahu benutzt unsere Kinder als Bauern auf einem Schachbrett“
Israelische Friedensaktivistin Rotem Sivan im Gespräch mit dem Tagesspiegel
Rotem Sivan-Hoffmanns Söhne dienen in der israelischen Armee. Weil sie den Krieg in Gaza für falsch hält, hat die Ärztin die Protestbewegung „Ima Era“ gegründet. Sie fordert einen sofortigen Waffenstillstand.
Von Tessa Szyszkowitz
21.Juli 2025
Tagesspiegel, Berlin
Zur Person: Rotem Sivan-Hoffman ist Ärztin und Aktivistin. Im November 2023 gründete die Direktorin der Abteilung für Radiologie am Meir Medical Center in Kfar Saba die Bewegung „Ima Era“ („Erwachte Mütter“). Die Mutter dreier Kinder, von denen zwei in der israelischen Armee dienen, fordert von ihrer Regierung eine Exitstrategie für den Gaza-Krieg. Sie ist auch Mitglied der oppositionellen, sozialdemokratischen Partei Die Demokraten in Israel.
Falter: Rotem Sivan, Ihre Kinder dienen in der israelischen Armee IDF. Ist das noch ein Krieg, für den es sich zu kämpfen lohnt?
Rotem: Mein ältester Sohn hat gerade gestern seinen Reservedienst beendet, er ist bei den Kommandoeinheiten in der Armee. Am 7. Oktober war er regulärer Soldat. Er rief uns um 11 Uhr an und sagte: "Wir drehen die Telefone ab. Geht und spendet Blut." Hinterher sagte er, er werde nie wieder in der Lage sein, über die Straße am Rande von Gaza zu fahren. Es war alles voller Leichen. Mein Sohn und seine Einheit kämpften den ganzen Tag in den Kibbuzim Nahal Oz und Be’eri, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Alle Kommandeure seiner Einheit wurden an diesem Tag in Nahal Oz getötet, alle fünf. Das war der Anfang.
Falter: Das muss für eine Mutter kaum auszuhalten sein.
Rotem: Ich dachte immer: Wann werden sie an unsere Tür klopfen und uns sagen, dass er tot ist? Wie werde ich reagieren? Rufe ich zuerst meine Eltern an? Werde ich zuerst seinen Bruder anrufen? Ich hatte schreckliche Angst. Wenn ein Soldat getötet wird, rufen sie dich nicht an. Die Armeevertreter klopfen an deine Tür, um es dir persönlich zu sagen. Sie kommen mit einem Arzt, falls jemand zusammenbricht. Was wir am meisten fürchten, ist dieses Klopfen an der Tür. Ich habe Freunde, die ihre Tür offen halten, damit niemand daran klopfen kann.
Falter: Sie haben den Krieg ursprünglich unterstützt, weil Israel sich nach dem 7. Oktober gegen die Hamas verteidigen musste?
Rotem: Zu Beginn des Krieges bestand die Aufgabe darin, die Geiseln zurückzubringen, die Sicherheit Israels wiederherzustellen. Als mein Sohn später als Reservist in die Armee zurückkehrte, war es schon eine völlig andere Mission. Jetzt ist das Einzige, was die Armee tut, Häuser zu zerstören. Eines nach dem anderen.
Falter: Machen Sie sich Sorgen, wie der Krieg Ihren Sohn verändert? Fürchten Sie den moralischen Schaden, den der Krieg ihm zufügen könnte?
Rotem: Natürlich. Die Soldaten kehren mit seelischen Narben zurück. Sie kommen mit einem posttraumatischen Belastungssyndrom zurück. Und selbst wenn sie kein PTBS haben, verändert sie der Krieg. Sie gehen als Kinder, junge Männer von 18 Jahren, und innerhalb von wenigen Monaten werden sie erwachsen. Es ist sehr traurig. Wir beschützen unsere Kinder die ganze Zeit, vom Kindergarten bis zum Schulabschluss. Damit sie nicht hinfallen. Damit sie gut essen. Und hier, innerhalb von einer Minute, nimmt sie die Armee mit und du kannst sie nicht mehr beschützen.
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