Deutschlands Verantwortung muss auch gegenüber Palästina gelten
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Als Antwort auf das Massaker des 7. Oktober gibt Israel die unfassbare Gewalt, die es erfahren hat, an die Palästinenser weiter. Die EU sollte in dem Konflikt mit einer Stimme sprechen.
Ein Gastbeitrag von Tessa Szyszkowitz
04.10.2024, 05:00 Uhr
Ein Jahr nach dem Schwarzen Schabbat, dem 7. Oktober 2023, ist der Albtraum immer noch nicht vorbei. Von den nach Gaza verschleppten 250 vornehmlich israelischen Geiseln sind über hundert immer noch nicht freigelassen worden. Seit Monaten fordern Hunderttausende Israelis einen Waffenstillstand in machtvollen Demonstrationen, zu denen bis zu einer Million Menschen auf die Straßen gehen. Aber die israelische Regierung gibt nicht nach.
Im Gegenteil. Sie eskaliert weiter. Der Krieg hat sich längst vom Süden im Gazastreifen auf den Norden in den Libanon ausgebreitet. Premier Benjamin Netanjahu von der Likud-Partei regiert mit rechtsextremen Siedlerministern. Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotritch stellen sich gegen jeden Versuch, zu deeskalieren.
Nach jüngsten Plänen, die die israelische Tageszeitung „Haaretz“ gerade veröffentlicht hat, will Israels Regierung den Norden des Gazasteifens auch weiterhin kontrollieren. Die palästinensische Bevölkerung soll im Süden bleiben. Oder, so steht zu befürchten, nach Ägypten flüchten.
Als Antwort auf das Massaker des 7. Oktober hat Israel einen Krieg gegen Gaza begonnen, der die unfassbare Gewalt, die Israelis erfahren haben, an die Palästinenser weitergibt. Innerhalb eines Jahres wurde der Gazastreifen fast dem Erdboden gleichgemacht. Ausländische Journalisten haben keinen Zutritt zum Kampfgebiet, es ist nicht einfach für uns, die Fakten zu überprüfen.
Nach Angaben des International Refugee Committee sind 75 Prozent der 2,3 Millionen Palästinenser im Gazastreifen intern vertrieben worden, manche mehrfach. Schulen, Krankenhäuser, Wohnbauten, die Infrastruktur – fast alles ist zerstört. Über 41.000 Tote beklagt das von der Hamas geführte Gesundheitsministerium.
Im Norden terrorisiert die vom Iran unterstützte Schiiten-Miliz Hisbollah seit Langem den Norden Israels mit Raketenangriffen. Israels Armee verteidigt sich immer rücksichtsloser und greift jetzt auch Beirut an. Nachdem Tausende Walkie-Talkies und Piepser in den Händen und Hosen, in Supermärkten und Wohnzimmern explodierten, ist die Infrastruktur der Hisbollah schwer getroffen worden. Aber auch Kinder und andere Zivilpersonen, die nach dem humanitären Kriegsrecht geschützt werden müssten.
Wie die neunjährige Fatima Abdullah. Das Mädchen starb im Libanon, als sie dem Vater seinen piepsenden Pager reichte. Oder: Der kleine rothaarige Israeli Kfir Bibas war ein zehn Monate altes Baby, als er von Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurde und vermutlich dort starb.
Und: Hind Rajab war fünf oder sechs Jahre alt, als das Fluchtauto ihrer Familie in Gaza-Stadt Ende Januar von einem israelischen Panzer beschossen wurde. Sie telefonierte noch mit dem Roten Kreuz, saß verletzt stundenlang zwischen den Leichen ihrer Verwandten. Umsonst. Hind wurde Wochen später tot geborgen.
Der Krieg hat Auswirkungen auf Israels Moral
Israels Regierung sagt, sie wolle nur Hamas und Hisbollah zerstören. Das Ausmaß der humanitären Katastrophe ist aber längst selbst in den zynischen Kalkulationen von Kriegsherren nicht mehr als Kollateralschaden abzutun. Dieser Krieg zerstört nicht nur die Lebensgrundlage der Palästinenser im Gazastreifen. Er hat auch schreckliche Auswirkungen auf Israel. Nicht nur auf Israels Sicherheit. Auch auf Israels Moral.
Man mag nicht mit allem einverstanden sein, was die propalästinensischen Demonstranten und Demonstrantinnen auf den Straßen Europas rufen. Doch Adam Shatz von der „London Review of Books“ weist in seinem Essay „Israel’s Descent“ auf eine simple und traurige Tatsache hin: „Die Geburt einer globalen Bewegung in Opposition zu Israels Krieg in Gaza und in Verteidigung palästinensischer Rechte zeigt auf jeden Fall eines: Es ist ein Zeichen, dass Israel den moralischen Krieg unter Menschen mit Gewissen verloren hat.“
Was bedeutet das für die Regierungen in Europa? Auf dem Labour-Parteitag in Liverpool forderte der ehemalige britische Botschafter William Patey von der neuen Regierung in London: „Wir müssen Palästina als Staat anerkennen, um diplomatische Hilfe zu leisten. Und weil wir die Israelis im Boot halten und auf zwei Staaten hinarbeiten wollen, müssen wir darauf bestehen, dass diese friedliche Lösung in den Grenzen von 1967 passiert.“
Innerhalb der EU ist es schwierig, zu einer gemeinsamen Position zum Nahen Osten zu finden, die der Geschwindigkeit, mit der sich die Beteiligten radikalisieren, irgendwie gerecht wird. Unter EU-Diplomaten heißt es, die deutsche Regierung sollte viel stärker mäßigend auf die israelische Regierung einwirken. Als erster Schritt könnten Deutschland und Österreich gemeinsam mit Frankreich so wie Spanien und Irland Palästina als Staat anerkennen. Dann spräche die EU mit einer Stimme und sähe nicht wie bisher dem Gemetzel auf beiden Seiten mehr oder weniger hilflos zu.
Ganz zu Recht empfinden die Deutschen, die den Holocaust an Jüdinnen und Juden verübt haben, eine tiefe Verbundenheit und eine große Verantwortung für Israel. Doch die Geschichte hat noch eine andere Lehre für uns: Aus der Asche des Holocaust entstand der Staat Israel. Die Geburt Israels bedeutete eine Katastrophe für die Palästinenser und Palästinenserinnen. Bis heute zieht sich die Nakbah immer und immer weiter fort. Deutschlands Verantwortung muss deshalb nicht nur Israel gelten. Sondern auch Palästina. Und was davon nach diesem Krieg noch übrig sein wird.