Erklär mir die Welt!
https://xn--erklrmir-3za.at/2024/05/21/303-deep-dive-gaza-israel-nachdenken-mit-tessa-szyszkowitz/
21. Mai 2024
Ein Gespräch mit Andreas Sator - Vorsicht, ein langes Gespräch. Andreas wollte es genau wissen.
Hier oben ist der Link zur Audio und Textversion.Das Gespräch gibt es auch als Video-Cast: https://www.youtube.com/watch?v=CMVgLSduO6s
#303 deep dive: Gaza, Israel – Nachdenken mit Tessa Szyszkowitz
Tessa Szyszkowitz sagt, die Hamas hat ihre Kinder zu Israelis gemacht. Wir reden darüber, wie man sich dem Konflikt in Israel & Palästina menschlich nähert – nüchtern, differenziert & ohne “Meinungsgranaten” zu werfen. Ein deep dive.
Tessa Szyszkowitz ist Journalistin und Historikerin.
Tessas Buchtipps:
Der Hundertjährige Krieg um Palästina: Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand von Rashid Khalidi
Niemals Frieden?: Israel am Scheideweg von Moshe Zimmermann
Mein gelobtes Land: Triumph und Tragödie Israels von Ari Shavit
Judas von Amos Oz
In der Folge erwähnt:
Der Text von Tessa im Falter: Wie Hamas meine Kinder zu Israelis machte
Der Text von Robert Misik auf zackzack.at: Die Verfassungshasser
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Das Team:
Mitarbeit: Sidonie Sagmeister
Vermarktung: Missing Link
Audio Production: Audio Funnel
Video Production: Domotion
Logo: Florian Halbmayr
Musik: Something Elated by Broke For Free, CC BY
Beatbox am Ende: Azad Arslantas
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Das Transkript:
Andreas: Danke an Christian und Birgit, zwei neue Unterstützerinnen von “Erklär mir die Welt”, und danke an alle 376 Unterstützerinnen in Summe, die zur Finanzierung des Podcasts auf erklaermir.at/support beitragen.
Das nächste Hörerinnen-Treffen findet am 29. Mai am Abend in Wien statt, um 18 Uhr. Wer Lust hat zu kommen, meldet euch bitte bei mir oder bei Sidonie und dann gibt’s die Location.
Wir arbeiten ja fleißig am Aufbau des YouTube-Kanals von “Erklär mir die Welt”, um dort eine neue Fangemeinschaft für den Podcast aufzubauen. Also die Idee ist nicht, dass jetzt viele, die über Spotify oder Apple oder wo auch immer den Podcast hören, jetzt rüber zu YouTube gehen, sondern durch den YouTube-Algorithmus eine komplett neue Fangemeinschaft aufzubauen. Und auf meinem Newsletter habe ich darüber geschrieben, wie ich dort ein Geschäftsmodell aufbauen möchte. Wenn das interessiert, der kann den Newsletter auf erklaermir.at/andreas abonnieren oder dort einfach nach YouTube suchen und nur diesen einen Text lesen: erklaermir.at/andreas. Und jetzt zur heutigen Folge.
Der Podcast, mit dem du die Welt jede Woche ein bisschen besser verstehen sollst. Heute geht es um ein Thema, das mich und sehr viele von euch beschäftigt und wo es sehr schwer fällt, sich eine Meinung zu bilden oder nicht in ein bestimmtes Lager abgedrängt zu werden: der 7. Oktober und der Krieg in Gaza, der danach gestartet wurde. Darüber rede ich mit Tessa Szyszkowitz. Habe ich jetzt falsch ausgesprochen?
Tessa: Nein, das war so toll. Es passiert uns selten.
Andreas: Liebe Tessa, schön, dass du da bist. Kannst du dich zu Beginn noch kurz vorstellen, bitte?
Tessa: Ja, also mein Name, Tessa Szyszkowitz, den du so schön ausgesprochen hast. Ich bin Journalistin und Autorin, habe in Wien Geschichte studiert, habe dann bei der Arbeiterzeitung angefangen als die Mauer in Berlin fiel, 1989, bin dann zum Profil gewechselt. Und 1994 habe ich gedacht, ich erobre jetzt die Welt, oder eigentlich nicht erobre, sondern ich entdecke die Welt, und bin in den Nahen Osten gegangen als Korrespondentin und von dort dann nach Brüssel, nach Moskau. Und seit 2010 lebe ich jetzt in London hauptsächlich, schreibe von dort jetzt sehr viel und sehr gern für den Falter und auch für andere Zeitungen wie den Tagesspiegel in Berlin. Und bin halt nie richtig zurückgekommen nach Wien, bin aber oft da und freue mich sehr, heute bei dir in deinem tollen Podcast hier in Wien sein zu können. Vielen Dank für die Einladung.
Andreas: Ich freue mich sehr, dass du da bist, Tessa. Du hast einen Text geschrieben im Falter im Februar 2024, der mich damals sehr bewegt hat. Und wie ich ihn gestern gelesen habe, der mich wieder sehr bewegt hat. Also ich habe total zum Weinen begonnen, weil ich finde, an deiner Geschichte, du hast das so empathisch aufbereitet, dieses Thema. Und es ist ganz selten, dass man bei dem Thema nicht nur mit Verdrängen reagiert, sondern sich dem auch wirklich emotional widmet. Also diese Schrecklichkeiten, die da am 7. Oktober passiert sind im Süden von Israel, die Schrecklichkeiten, die jetzt in Gaza passieren, die Schrecklichkeiten, die in Palästina seit Jahrzehnten passieren, und die Schrecklichkeiten, die an Jüdinnen und Juden seit Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden passieren.
Der Text, den du geschrieben hast, da hat er den Titel “Wie Hamas meine Kinder zu Israelis machte”. Ich glaube, es gibt weniger Leute mit denen, die deine Perspektive auf dieses Thema haben, als Enkelin von Nazis, als Mutter von Israelis, als Historikerin, als Journalistin, die noch dazu ihre Dissertation zu palästinensischen und tschetschenischen Selbstmordattentätern geschrieben hat. Du hast es so differenziert geschildert in dem Text und hast auch mal den schönen Begriff verwendet, dass manche Leute “mit Lust Meinungsgranaten werfen”. Du hast das gar nicht gemacht. Darüber würde ich gerne mit dir ein bisschen sprechen, um irgendwie ein bisschen besser zu verstehen, was da eigentlich passiert und ob man das nicht doch irgendwie besser und menschlicher hinbekommen könnte.
Und ich würde vorschlagen, weil so viel passiert ist in letzter Zeit, dass wir zu Beginn mal einen kleinen Recap machen. Kannst du uns mal erzählen, was ist da passiert am 7. Oktober? Das wirkt schon so weit weg, weil so viel passiert ist. Was ist da damals, was hat sich da ereignet?
Tessa: Also der 7. Oktober, der eben auch der Ausgangspunkt für diesen Krieg im Gazastreifen war, das geht jetzt seit sieben Monaten. Und am 7. Oktober kam es zu einem Überfall der Hamas auf den Grenzstreifen neben dem Gazastreifen. Ein kurzer Recap ist natürlich ein bisschen schwierig, aber allein am 7. Oktober im Morgengrauen saßen Hunderte, Tausende junge Israelis und Israelinnen bei einem Rave-Music-Festival in der Nähe des Gazastreifens und haben dort getanzt. Und in den Kibbuzim, die dort seit vielen Jahrzehnten stehen, in denen viele so friedensbewegte Israelis auch eingezogen sind, da wachten junge Eltern auf, weil ihre jungen Kinder halt um 6 Uhr früh aufstehen.
Und plötzlich gab es diese Alarme und die Sirenen, dass Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert werden, von der Hamas auf diesen Grenzstreifen. Da sind die Leute dort immer schon gewohnt gewesen in den letzten Jahren. Normalerweise geht man in den Bunker, wartet, dass das vorbei ist, und geht dann wieder raus. Oder fährt dann einmal zu den Eltern irgendwo nach Tel Aviv.
Und das passierte aber nicht. Und das war der Ausgangspunkt dieser Tragödie, dass die Hamas es geschafft hat, in diesem groß angelegten, lang geplanten Anschlag aus mehreren Stellen aus dem Gazastreifen durch den Zaun und mit Paragleitern oben drüber zu fliegen und durchzubrechen. Und angefangen haben sie zuerst die Militärstationen der Israelis zu überfallen. Und sie haben sich sehr wenig Widerstand gegenüber gesehen und haben dann angefangen, immer weiter ins Land hineinzulaufen, immer in Kibbutzim, in das Musikfestival. Die Leute waren dort nicht geschützt. Die Hamas hat wahrscheinlich gar nicht verstanden, wie wenig Widerstand dort war.
Und so hat sich diese Tragödie abgespielt, dass, wie wir heute wissen, 1200 Leute dort abgeschlachtet wurden, auf ärgste Art und Weise massakriert, auch gefoltert. Also der schlimmste Alptraum jedes Zivilisten und jeder Zivilistin auf der Welt ist da vor sich gegangen. Und gerade für Juden und Jüdinnen, die seit Jahrtausenden Angst vor diesem Verlust ihrer menschlichen Existenz hatten, weil sie eben oft verfolgt worden sind in ihrer Geschichte, war das natürlich eine Retraumatisierung sondergleichen.
Aber in dem Moment, als es geschah, wusste man ja nicht sofort auch das Ausmaß dieser Katastrophe. Und es hat ja drei Tage gedauert, das auch unter Kontrolle zu bringen. Das war der Beginn. Ein Massaker.
Es gibt jetzt natürlich auch sehr viel Streit inzwischen schon darum, wie man das nennt, den 7. Oktober. Ich finde, man kann ihn auch als “Schwarzen Schabbat” bezeichnen. Es war ein Massaker, ein Terroranschlag, ein Pogrom, es war all das, finde ich. Also für die Leute, die davon betroffen waren, physisch direkt dort und die umgekommen sind, natürlich sowieso.
Und die Hamas hat dann auch Geiseln nach Gaza verschleppt, von denen jetzt immer noch ungefähr 130, man weiß leider nicht, wie viele noch am Leben sind nach 7 Monaten, dort sind. Und um die geht es jetzt zum Teil auch in diesem Krieg, dass man diese Leute nach Hause bringt.
Und für die israelische Regierung geht es darum, die Hamas-Führung, die das alles geplant hat, zu erledigen. Und nicht nur für die israelische Regierung. Also das sind natürlich auch viele Leute der Meinung, jemand, eine Organisation, eine Regierung im Gazastreifen, die so ein Massaker plant und das für bewaffneten Widerstand hält, sie kann nicht Teil einer zukünftigen politischen Lösung sein. Und an all dem entzündet sich natürlich jetzt die Weltmeinung. Und das geht auch bis in den engsten Freundeskreis, dass die Leute darüber streiten, ob die Israelis da jetzt zu weit gegangen sind in dem Krieg gegen die Zivilbevölkerung und nicht nur gegen die Hamas im Gazastreifen oder nicht, und wie man da jetzt wieder rauskommt.
Darüber wollen wir heute reden, auch über dich und deine Familie, über die du da geschrieben hast in deinem Text.
Andreas: Weißt du noch, wo du warst, wie das passiert ist, wie du davon erfahren hast? Kannst du dich da erinnern?
Tessa: Ja, ich war zuerst in London in der Früh und hab dort davon gehört. Wir haben sofort in der Familie und im Freundeskreis, es sind in solchen Fällen, wenn Anschläge passieren, geht es sofort heutzutage auf WhatsApp und auf Signal und Telegram und so weiter. Alle diese Gruppen entzünden sich, alle fragen, wo die Leute sind, was los ist.
Es war auch total unübersichtlich. Es ist ja auch in den Nachrichten, man merkt das heutzutage, dass in den etablierten Nachrichtensendern wie der BBC oder dem ORF dann erst später die Nachrichten kommen, weil die das erst verifizieren müssen, während auf WhatsApp-Kanälen und so weiter die Leute sehr schnell irgendwelche Sachen schon austauschen.
Und wir haben viele Freunde, viele Familienmitglieder in Israel, aber auch überhaupt auf der Welt, viele Leute, die auch in Sicherheitsdiensten arbeiten, von denen über irgendwelche Kanäle dann Sachen rausgekommen sind, wo mir von Anfang an klar war, dass das furchtbar ist, was dort ist, und dass das nicht weitergeht als das, was wir gewöhnt sind.
Also es ist nicht ein Bus, der in die Luft fliegt, oder ein Auto, das in eine Bushaltestelle reinfährt, oder so Sachen, an die man sich ja traurigerweise über Jahrzehnte auch schon gewöhnt hat.
Und ich musste dann aber nach Wien und bin nach Wien geflogen und saß im Flugzeug neben einer Frau, die Seelenprobleme hatte und von der ich gleich gespürt habe, dass die irgendwie beteiligt ist. Die saß so wie ich und war bekümmert. Und dann habe ich sie gefragt, ob ich ihr helfen soll, rauszugehen, weil sie hätte warten müssen auf eine Stewardess oder irgendjemanden, der hilft, rauszugehen in die Ankunftshalle, wo sie ihre Verwandten getroffen hat.
Und sie wollte aber nicht warten und ich habe mir gedacht, die muss da wirklich raus aus dem Flugzeug. Und habe sie gefragt, ob ich mit ihr rausgehen soll. Und sie hat gesagt, ja, und dann bin ich mit ihr gegangen und wir haben sofort angefangen darüber zu reden, was da los ist im Süden von Israel.
Und sie hat eben gesagt, sie ist Israelin, die in London wohnt und jetzt zu ihrer Familie, zu ihren Cousins nach Wien kommt. Und es war so klar, dass da eine unfassbare Sache passiert, die sofort alle Leute, die irgendeine Verbindung haben, auch erfasst hat in der Betroffenheit.
Und es war klar, dass es vielen Leuten im Flugzeug vollkommen wurscht war. Weil die haben andere Sorgen, sagen wir mal so. Die waren nicht involviert, die haben das auch noch nicht so mitgekriegt. Auch nicht jeder hängt irgendwie am Telefon, so wie ich ein News-Junkie bin.
Aber wir haben uns auch jetzt seitdem geschrieben, E-Mails geschrieben, um zu schauen, wie es uns geht. Weil die wie ich auf komische Art und Weise, vielleicht auch durch unsere internationale Aufstellung, das Gefühl hat, dass sie eben auch mit vielen Leuten in ihrer Familie, in der israelischen Familie, nicht so gut drüber reden kann, was passiert ist, weil die halt auch sehr hineingekippt sind auf die eine Seite, während sie in London sehr viele unterschiedliche Freunde und Freundeskreise hat und auch eine etwas offenere Diskussion über Nahostpolitik generell, also wo die Leute nicht unbedingt Netanyahus Regierungspolitik verteidigen müssen, sondern auch sagen können, dass das eine Katastrophe ist für Israel.
Und so ging es bei uns los und das war nur der Anfang einer langen, schwierigen und auch sehr berührenden Diskussion, weil ich noch auch sehr, sehr viele, sehr gute Gespräche in den letzten sieben Monaten geführt habe mit Leuten, die sich eben auch nicht unbedingt auf eine Seite werfen wollten, weil sie spüren, dass diese Entmenschlichung uns allen überhaupt nicht gut tut.
Andreas: Weißt du noch, was du da gefühlt hast? Warst du da irgendwie im Modus der Journalistin, die da jetzt Informationen sammelt? Warst du da irgendwie Mutter oder was ist da in dir passiert?
Tessa: Ja, ich bin natürlich immer Journalistin und immer Mutter. Und deswegen, ich versuche das gar nicht zu trennen. Vor allem, wenn ich ja im Privatmodus irgendwo dann zwischen London und Wien herumgehe.
Also diese Frage, was passiert ist, das war immer schon für mich so ein Ansatz. Ich wollte immer alles wissen. Ich war auch als Nahost-Korrespondentin nicht so, dass ich mir gedacht habe, okay, ich kann da jetzt nicht hinschauen. Das ist mir zu viel oder so was. Und es waren auch in den 90er-Jahren entsetzliche Anschläge.
Und das hat sich nie geändert. Ich habe auch nie davor zurückgeschreckt, mich mit den schrecklichsten Leuten unterhalten zu wollen, um zu verstehen, wie die denken. Also was die Hamas denkt, was diese Hamas-Führer da vor sich, auch was die sich erträumen, was deren Träume sind. Auch das, das habe ich alles immer über die Jahre mir angehört im Gazastreifen, wo man oft zwei Tage lang sich erholen musste von diesen extremistischen Fantasien. Umgekehrt bei den Siedlern, und wie gesagt, ich schreibe das auch in dem Text, ich will die nicht vergleichen, sondern ich glaube, wir müssen es aushalten können, dass man auch verschiedene Positionen sich anschaut und sagt, die sind schrecklich und die sind schrecklich. Und das ist im Grunde genommen so grauenvoll.
Man muss es nicht vergleichen, aber man kann sagen, dass es das gibt. Und in dem Fall, an dem Tag, am 7. Oktober, habe ich sofort mit allen meinen Kindern Kontakt gehabt und mit ihnen gesprochen, weil es für junge Leute, glaube ich, noch viel schwerer ist, als für so uns ein bisschen abgestumpftere, die schon mehrere Weltkonflikte und Kriege, in meinem Fall muss ich sagen, zum großen Glück nur indirekt miterlebt haben. Aber wir wissen schon eher, wie solche Sachen zustande kommen und wie komplex solche Dinge sind.
Und das ist natürlich bei meinem 19-jährigen Sohn, woher soll der das wissen? Das ist ja für den alles Geschichte, was bis vorgestern passiert ist. Und deswegen habe ich sehr, sehr viel sofort mit denen gesprochen, mit allen gesprochen.
Jetzt haben wir auch alle Leute angerufen, alle haben sich gegenseitig versucht, auch mehr Information zu bekommen aus allen möglichen Kanälen, sowohl internationalen Medien als auch israelischen und Al-Jazeera und was weiß ich nicht alles. Alle Leute haben versucht festzustellen, was da eigentlich los ist.
Das war chaotisch, aber es war auch völlig klar, dass das absolut furchtbar war. Ich habe auch natürlich in meinem Umfeld nie jemanden getroffen, der geglaubt hat, dass das eine legitime Art und Weise ist, sich zu verteidigen gegen die israelische Besatzung in den palästinensischen Gebieten.
Das sind Dinge, was wir da ganz am Anfang gesehen haben, dass irgendwelche Leute das auf Twitter oder sonstwo auf X gefeiert haben. Viele von denen, die zuerst gesagt haben, wow, die brechen aus Gaza aus, haben auch, als sie festgestellt haben, was das bedeutet hat, wie Zivilisten dort gequält wurden und umgebracht wurden, diese erste Reaktion auch zurückgezogen und haben sich auch entschuldigt.
Und dann gab es natürlich welche, die finden das wahrscheinlich bis heute super. Das sind nicht unsere Freunde.
Andreas: Ich habe da auch so viel drüber nachgedacht und auch herumgeirrt, weil wenn ich jetzt dran denke, also ich bin der Meinung und kann mich vielleicht dafür prügeln lassen, aber Terror ist nicht immer illegitim.
Also wenn ich jetzt dran denke, du bist in der Ostukraine und deine Familie wird teilweise verschleppt nach Russland, du wirst da jetzt besetzt und dann irgendwie Widerstand zu leisten, auch in fünf Jahren oder in zehn Jahren, oder schauen wir mal wie lange das so bleibt, die Situation in der Ukraine, ist zum gewissen Teil für mich total nachvollziehbar. Und vor allem, wenn man der Schwächere ist, dass man dann sagt, ok, aber jetzt setzen wir uns an einen Tisch, aber wenn der halt nicht mit mir reden will und der mir die Waffe ins Gesicht hält, dann wehre ich mich halt auch anders.
Ist jetzt natürlich das, was passiert ist da am 7. Oktober von so einer unfassbaren Grausamkeit und in einem Ausmaß, das einem nur schlecht werden kann. Und versteht mich bitte nicht falsch, ich finde das überhaupt nicht legitim und ganz furchtbar.
Wie denkst du so über Terror quasi als Mittel der Unterdrückten? Kannst du nachvollziehen, was ich da jetzt gesagt habe?
Tessa: Ja, ich kann das sehr gut nachvollziehen. Ich bin nicht ganz deiner Meinung. Ich glaube, dass es Fälle gibt, wo Gewalt gegen Unterdrücker und gegen totalitäre Regime legitim ist.
Ich selber würde mal hoffen, dass ich nicht in die Lage komme, dass ich mir das im konkreten Beispiel überlegen muss, ob ich jetzt einem, nämlich einem Zivilisten, eins überbrate, der ungeschützt, oder einer Zivilistin, die ungeschützt ist. Das ist ja das entscheidende Element beim Terrorismus.
Und es gibt viele Beispiele für Terrorismus in der Geschichte, denen ich nicht zustimmen würde. Und viele, wo man heute zurückblickt und sagt, ok, Nordirland, da gab es eine britische Armee und es gab eine britische Dominanz gegenüber den Katholiken in Nordirland. Und die haben das Gefühl gehabt, sie kriegen keine Jobs und sie werden dann dafür auch noch verprügelt, wenn sie dafür demonstrieren gehen.
Und so entstand die Irish Republican Army, die IRA. Und das sind so, wenn man sich das dann anschaut, was da passiert ist, dass die einen Friedensschluss gemacht haben, weil sie das Angebot bekommen haben, ihre Waffen niederzulegen und dafür Rechte zu bekommen, dann ist das sozusagen ein gelungenes Beispiel, wie der bewaffnete Widerstand, den ich jetzt wirklich nicht in allen Fällen unterstützen würde – die haben Bomben gelegt unter Zivilisten in London, weil sie gesagt haben, alle Zivilisten in London sind auch legitime Objekte des bewaffneten Widerstands – aber die haben die Waffen niederlegen können, weil es eine Konfliktlösung gegeben hat, wo das möglich war.
Und ich glaube, das ist überhaupt das Entscheidende. Auch israelische Terroristen hat es gegeben in den 40er Jahren, die gegen das britische Mandat Bomben gelegt haben im King David Hotel in Jerusalem. Die haben auch die Waffen niedergelegt, weil sie einen Staat bekommen haben. Das war auch nicht einfach und nicht unkompliziert.
Und im Fall der zum Beispiel der PLO und Yasser Arafat, großer Terrorist gewesen, hat Anschläge gegen israelische Armee, aber auch Zivilisten gutgeheißen. Wir haben damals, das war sozusagen, ich war da noch ein kleines Kind bei den Olympischen Spielen in München, haben die israelischen Athleten nicht nur gekidnappt, sondern dann auch umgebracht. Eine Katastrophe für die Menschlichkeit, dass das passiert ist.
Yasser Arafat hat dann in den 90er Jahren ein Angebot bekommen von Yitzhak Rabin, einen Friedensschluss zu machen, eine gegenseitige Anerkennung, auch der Rechte der Palästinenser und der Existenz Israels. Es war eine Chance, den Terrorismus zu besiegen durch ein Friedensangebot.
Ich glaube, das ist immer das Entscheidende auch im konkreten Fall jetzt mit dem, was an bewaffnetem Widerstand jetzt gegen die israelische Besatzung möglich ist.
Ich habe so viele Gespräche auch geführt mit Müttern zum Beispiel im Westjordanland, Palästinenserinnen, die sagen, auch gerade letzte Woche haben wir das gemacht, im Wiener Rathaus bei der Wiener Vorlesung. Das habe ich moderiert. Da waren Frauen aus der Friedensbewegung, aus Palästina und aus Israel, also die “Women Wage Peace” aus Israel und “Women of the Sun” aus Palästina, aus Bethlehem.
Und die palästinensische Mutter hat gesagt, jeden Tag in der Früh hat sie Angst, dass die Besatzungsmacht in ihr Wohnzimmer kommt. Und wie soll sie sich und ihre Kinder davor schützen? Und wie soll sie sich davor schützen, dass die Kinder zur Hamas gehen und Terroristen werden?
Weil wenn es kein Angebot gibt auf Frieden, was für eine Chance haben die Leute da noch? Viele von den Müttern sind schon ganz froh, wenn die Kinder nicht zur Hamas gehen, sondern zur BDS unterstützen. Was heutzutage in Österreich und in Deutschland und an vielen Orten auch aufgrund der antisemitischen Tendenzen, die manche von den BDS-Unterstützern haben, auch nicht so gerne gesehen wird.
Andreas: Erklär kurz, was BDS heißt.
Tessa: BDS ist diese Bewegung, die gegründet wurde, um israelische Produkte, israelische Firmen zu boykottieren und sich davon zurückzuziehen. Also “Boycott, Divest, Sanctions”, BDS.
Das ist jetzt seit Jahren im Gespräch, ist noch nie richtig passiert. Das war noch nicht sehr erfolgreich. Im Moment hat man das Gefühl, dass sehr viele Leute das unterstützen, auch unter den Jungen in den Uni-Protesten, weil sie sagen, die israelische Besatzung hört auch nicht auf, wenn wir keinen Druck erhöhen gegenüber eben Firmen, die ganz normal, also israelische Firmen sind.
Und ich persönlich habe immer gefunden, Boycott ist etwas, was ich überhaupt nicht so gerne habe. Und ich möchte auch nicht als Österreicherin israelische Firmen boykottieren und schon gar nicht einen kulturellen oder akademischen Boycott unterstützen, wie das auch viele Leute tun.
Aber um zurückzukommen zu dem Gedanken, was jetzt Familien im Westjordanland zum Beispiel machen sollen, um die jungen Leute, die unter diesem enormen Druck dieser Besatzung und der Siedler, die sich immer mehr ausbreiten, leiden – wenn ich als Mutter versuche, mein Kind davon abzuhalten, gewalttätig Widerstand zu leisten, dann würde man sagen, okay, ich mache zivilen Widerstand.
Ziviler Widerstand war zum Beispiel BDS. Das klingt jetzt hier in diesen Ohren, ich bin überzeugt davon, dieser Podcast kriegt für diesen Satz jetzt irgendwie schon 100.000 negative Reaktionen. Aber man muss sich das auch ein bisschen vorstellen: Was sollen die Palästinenser eigentlich machen? Die sollen die Klappe halten und sich besetzen lassen? Das wäre natürlich sehr praktisch, weil dann hätten wir alle kein Problem.
Aber das widerspricht den Menschenrechten. Und es führt dazu, dass sich im Westjordanland immer mehr Siedler ausbreiten. Jetzt sitzen Mütter in Bethlehem und sind friedfertige Menschen. Und ihre Kinder wollen sich engagieren gegen die Besatzung. Wenn sie das machen mit bewaffnetem Widerstand, dann werden sie zu Terroristen. Machen sie es mit BDS, werden sie quasi auch als Terroristen verunglimpft.
So wie jetzt auch viele Studenten und Studierende auf der ganzen Welt, die sozusagen die Rechte für Palästinenser einfordern. Es ist unglaublich vertrackt. Es ist sehr schwierig. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass man sich das immer genau überlegt, dass man nicht die Leute sofort denunziert für alles, sondern sich auch überlegt, welche Chancen die überhaupt haben.
Was aber nicht heißt, dass ich Terrorismus gegen israelische Zivilisten gutheißen würde. Auf keinen Fall. Und zwar nirgends. Und auch nicht gegen palästinensische Zivilisten. Das müssen wir uns gerade in einer Situation, wo das jetzt so außer Kontrolle geraten ist, wirklich immer wieder zurückrufen und klarstellen.
Andreas: Warum fand ich den Begriff “Meinungsgranaten” bei dir so gut? Weil so viele Menschen mit einer Meinung rausplatzen und vielleicht auch versuchen, Aufmerksamkeit zu bekommen, oder weil es einfach auch Spaß macht oder weil man Teil einer Gruppe ist und dann auch stolz drauf ist. Oder vielleicht weil man das einfach persönlich aus den besten Überlegungen total ungerecht findet.
Aber es ist alles so vertrackt und so kompliziert. Und darum fand ich, finde ich das, was du immer schreibst, so toll, weil es mir ein bisschen hilft, da als, würde ich sagen, Menschenfreund, der irgendwie nur will, dass es den Leuten gut geht, und irgendwie versucht, human über das nachzudenken, bei so vielen Schrecklichkeiten, die man sich gegenseitig antut.
Ja, und darum reden wir noch ein bisschen über deine Familie. Nimm uns da mal mit in die Situation. Du hast in den 90er Jahren einen Israeli geheiratet und hast dann auch ein Kind oder mehrere Kinder in Israel. Kannst du das erzählen?
Tessa: Ich war eben als Korrespondentin in Jerusalem 1994 und hab dort dann meinen, den Vater meiner Kinder kennengelernt. Und das war eine große Liebesgeschichte. Wir haben, ich weiß nicht, was er in mir gesucht hat und was ich in ihm gesucht habe, aber es hat sicher sehr viel mit unserer jeweiligen Familiengeschichte auch zu tun.
Die Familie von meinem Ex-Mann ist teilweise aus Wien und teilweise aus Riga. Und mein damaliger Schwiegervater, der längst verstorben ist leider, hat sich gefreut, den Wiener Dialekt in dieser Generation wiederzubekommen.
Das war, glaub ich, für uns alle ganz schön, für meine Familie, die haben sich ein bisschen gewundert, dass ich da erst überhaupt nach Israel gegangen bin. Haben das aber sehr unterstützt und gut gefunden. Meine Eltern waren sehr, sehr viel bei uns auch und haben sich das super interessiert für alles. Auch weil meine Eltern eben sehr offen gegenüber der ganzen Konstellation, unserer geschichtlichen Determiniertheit auch irgendwie waren, dass wir eben sehr viel zu tun hatten. Aus vielen Gründen mit Jerusalem als Stadt und mit Israel als Land und mit den Israelis als Menschen.
Das war am Anfang dieser Familiengeschichte, dass ich dann meine eigene kleine Familie da gegründet habe. Das ging alles sehr schnell, aber es war auch ziemlich lustig, weil ich als junge feministische, progressive Atheistin – wäre mir das natürlich völlig egal gewesen, ob das jetzt Juden sind oder nicht, nach dem religiösen jüdischen Gesetz.
Weil ich grundsätzlich der Meinung bin, wir sind ja alle so, wir wachsen alle mit den Ideen der Eltern auch auf und machen dann damit, was wir wollen. Und also auch die Identitäten sind so Mischungen aus dem, was wir halt so mitbringen, was uns mitgebracht wird.
Und bei meinen Kindern ist das ja am Ende auch so geworden, dass sie durch ihren Vater, durch mich, durch ihre Großeltern die verschiedenen kulturellen Einflüsse auch beeinflusst sind und sich aussuchen, was sie davon auch gerne mitnehmen möchten für sich.
Aber mein damaliger Mann und die Schwiegereltern, die waren so merklich unglücklich darüber, dass durch meine Nicht-Jüdischheit die jüdische Linie der Familie, die ja über die Frauen geht, unterbrochen werden würde oder beendet werden würde, was für jüdische Familien nach dem Holocaust auch von Bedeutung ist.
Und ich hab dann so relativ locker gesagt, na dann trete ich eben über, wenn euch das wichtig ist. Und das war ganz schön anstrengend alles, weil man halt sehr viel lernen muss. Und ich hab dann sehr viel mehr gewusst als der Rest der Familie, weil die ja alle relativ säkulare Menschen sind.
Andreas: Aber was heißt lernen? Gibt es eine Aufnahmeprüfung?
Tessa: Gibt es eine volle Aufnahme. Was heißt? Man muss ein Komitee von Rabbinern und so weiter absolvieren. Ja, ja, das musste man alles. Und das war sehr, sagen wir mal so, das ist intellektuell schon zu bewältigen, weil die Frauen sind ja nicht dafür da, wirklich das Intellektuelle abzudecken in der traditionellen jüdischen Familie und in der Religion.
Und deswegen musste ich aber zum Beispiel die Kaschrut, also die Gesetze, wie man eine koschere Küche führt, musste ich lernen. Obwohl ich nie vorhatte, eine koschere Küche zu führen. Aber es hat auch nichts geschadet, dass man was lernt.
Diesen Ansatz hatte ich und habe deswegen gelernt, ob das bei den Sephardischen oder Aschkenasischen, bei den orientalischen und europäischen Juden, dass es unterschiedlich lang dauert, ob man nach dem Fleischessen, beim Mittagessen, einen Kaffee mit Milch trinken darf. Solche Sachen, interessante, wichtige Sachen von der Weltgeschichte habe ich dann gelernt.
Und wir haben meine Kinder komischerweise, ich dachte immer später, als wir uns dann scheiden ließen, haben dann Leute gesagt, ja, und bleibst du jetzt Jüdin? Und das ist halt, ich war ja nie. Und das ist mir auch wichtig zu betonen, weil die Leute sollen auf keinen Fall denken, dass ich mich dann irgendwie hier als große Jüdin aufgespielt habe oder aufspielen will oder so was.
Ich halte das für, das wäre mir äußerst unangenehm. Ich glaube nicht, dass man durch einen Übertritt zum Judentum 3000 Jahre Verfolgungsgeschichte mitbringen kann. Das wäre mir auch nicht wichtig. Es wäre mir auch nicht wichtig so zu tun, als wären jetzt alle Juden meine Freunde oder so was. So bin ich einfach auch nicht.
Für meine Kinder glaube ich und für die Familie meines Ex-Mannes war das einfach, ich weiß nicht, irgendwie eine historische Sicherheitsschnur. Und meine Kinder haben auch gesagt, sie finden das sehr nett von mir, dass ich mir das angetan habe. Weil sie wissen, dass es mir nicht so selber nicht wichtig gewesen wäre. Und dass sie die Möglichkeit haben, sich als Juden zu bezeichnen, wenn sie das möchten.
Und gleichzeitig sind die natürlich, leben die ja kein religiöses Leben oder kein, haben sehr wohl auch eben diese internationale, wie soll ich sagen, globalisierte Existenz. Die leben in London und in New York im Moment und einer ist auf der Uni. Und was die damit machen, das werden sie sehen.
Ich glaube, dass das wichtig ist, so wie wir jetzt schon im 21. Jahrhundert da mitten drin sind, also das erste Viertel schon hinter uns haben, dass wir uns da auch nicht einschränken lassen von solchen Debatten, wer welche Identität hat. Also das wäre wirklich nach so viel großartiger, kultureller Vermischung schon ein bisschen lächerlich.
Andreas: Aber so was ich jetzt gelesen habe bei dir, es ist doch ein Teil, auch ein kleiner Teil von einer bunten, vielseitigen Identität auch dir geworden.
Tessa: Ja, auf jeden Fall. Es hat mich auch geprägt, dass ich sehr viele Jahre und bis heute jüdische Feste feiere. Das heißt nicht, dass wir nicht auch, meine Kinder und ich, jedes Jahr zu Weihnachten hier in Wien bei meinen Eltern sind. Und dass das auch allen wichtig ist.
Was aber so wie wir hier Weihnachten feiern, heißt das ja auch nicht, dass das jetzt eine riesige religiöse Veranstaltung ist. Ganz im Gegenteil. Also bei mir geht es sicher mehr um diese Identität als Familie und auch so ein Bewusstsein darüber, wo Familiengeschichten sich abgespielt haben und was man daraus mitnehmen kann.
Wenn man einen Pessach-Seder feiert, jetzt wie dieses Jahr, haben wir das gefeiert in London mit den Kindern, meinem Ex-Mann und Freunden und meinem Partner und allem. Das ist ein gutes Ding, wenn man die Leute zusammenbringt und sich auch daran erinnert, wo man herkommt. Das heißt nicht, dass man jetzt daran glaubt, wie in einer religiösen Ebene. Das ist einfach nicht meine Sache. Das können andere Leute natürlich machen, wie sie wollen.
Andreas: Du hast auch geschrieben über deine Großeltern, die sowohl mütterlich als auch väterlicherseits, also beide Seiten, waren auch NSDAP-Mitglieder und mütterlicherseits in Polen sogar recht in einer gehobenen Position. Kannst du darüber auch noch erzählen?
Tessa: Für mich wäre es nicht ganz einfach, darüber zu schreiben, also öffentlich, aber nicht so sehr wegen mir. Wir sind ja aufgewachsen, meine Brüder und ich, in einem Elternhaus, wo nicht verschwiegen wurde, was passiert ist in den Familiengeschichten. Im Gegenteil, meine Eltern waren selber Kinder im Zweiten Weltkrieg und haben sich dann sehr klar auseinandergesetzt mit den Irrtümern ihrer Eltern.
Die Großeltern mütterlicherseits habe ich überhaupt nie kennengelernt. Die von meinem Vater, die Grazer schon. Da hat Politik nicht so große Rolle gespielt. Für meine Mutter war das sicher sehr, sehr schwer aufzuwachsen mit der Erkenntnis, was für einen gravierenden Irrtum ihr Vater, den sie natürlich als freundlichen Menschen, als Kind noch kennengelernt hat, der ist gestorben, als sie 10 war. Sie war 9, am Ende des Zweiten Weltkriegs.
Das war für sie unglaublich schwierig. Das hat sie aber durchgearbeitet und uns deswegen auch die Möglichkeit gegeben, das klarzusehen und das nicht zu verschweigen und auch nicht so zu tun, als wäre nichts gewesen. Und hat uns auch erzogen, dass man diese Irrtümer nicht begehen soll.
Und ich glaube, was aus beiden Großelterngeschichten sich über die Eltern auf uns übertragen hat, auf mich ganz im Speziellen, ist eine gewisse Vorsicht vor Massenveranstaltungen, vor Zugehörigkeiten zu Bewegungen, die sich hineinsteigern in auch radikalisierte Bewegungen, die auf der Straße marschieren und die Dings und Dangs und so weiter.
Also da habe ich glaube ich schon eine Vorsicht und eine Reserviertheit darüber. Das hat mir das natürlich auch erleichtert, in meinem Beruf ein bisschen mich unabhängig umzuschauen, in die verschiedenen Perspektiven einzunehmen.
Und ich glaube, das kommt schon aus meiner Mutter, auch von meinem Vater, die beide selber einfach keine Parteimitgliedschaften und Zugehörigkeiten gesucht haben. Und ich kann mir vorstellen, dass das in vielen Familien, die aus solchen Familien stammen, auch so ist, dass bei den kritischeren Geistern auch viele Leute diese Vorsicht bis heute haben.
Andere haben das vielleicht ganz umgekehrt gemacht und haben sich gedacht, gerade weil sie kommen aus irgendwelchen Nazi-Familien, dass sie gerne eine neue Heimat, die eben demokratisch war, auch gesucht haben und eine Zugehörigkeit, natürlich auch okay.
Aber ich weiß nicht, wie vielen Familien das wirklich gelungen ist oder Kindern von Nazis, dass sie sich so kritisch und differenziert damit auseinandersetzen und das aufarbeiten.
Ich denke jetzt zum Beispiel, jetzt bin ich Hobbypsychologe, aber bei Jörg Haider, der aus einer Nazi-Familie kommt, da fällt es einem dann natürlich, wenn man ein positives Bild von sich und seiner Familie haben möchte, was wir alle haben wollen und was wir auch ein bisschen zum, glaube ich, wieder Hobbypsychologe, zum Überleben brauchen, dass wir eigentlich alle gute Menschen sind und gute Dinge machen. Dann ist es so schwer, das irgendwie im Kopf zusammenzukriegen – ich liebe die Leute und die sind mir so wichtig, das sind gute Menschen, die haben extreme Fehler gemacht – das irgendwie im Kopf zusammenzukriegen, finde ich extrem bewundernswert.
Andreas: Ich glaube, es ist auch schwierig. Ich meine, für mich war es nicht so schwierig, weil meine Eltern haben diese Arbeit für uns gemacht. Wir müssen eigentlich nur diese Verantwortung, die ich empfinde, auch aus dieser Geschichte heraus weitertragen.
Und das war mit der Grund auch für diesen Essay, dass ich den Eindruck hatte, die Einseitigkeit – wir haben auf der einen Seite eine wirklich starke Verantwortung als deutsche oder österreichische Regierung oder einfach als Bürgerinnen und Bürger dieser Staaten, dass wir Israel gegenüber mit großer Solidarität auch vorgehen, gegenüber der Existenz Israels.
Das heißt aber nicht, dass man nichts sieht, wenn ein Land einen Irrweg beschreitet, so wie das diese, im Speziellen diese israelische Regierung jetzt tut. Meiner Meinung nach, man kann darüber streiten.
Aber ich glaube, dass das wichtig ist, dass man das eben einbezieht aus historischen Gründen, dass wir nicht nur eine Verantwortung dafür haben, Israel zu unterstützen, dass es dieses Land geben soll. Und das gibt es ja sowieso jetzt. Also diese Verantwortung ist ja praktisch schon erledigt. Also das steht ja nicht mehr in Frage, ob es Israel gibt oder nicht.
Klar, aber wenn wir jetzt sitzen würden in einem Studio in Tel Aviv, mitten in einem Land, das einfach eine Bevölkerung hat, die modernste, tollste Dinge tut und die sowohl wirtschaftlich als auch ein Finanzzentrum hat, moderne Hightech-Industrie in jeder Hinsicht, aber auch sehr viel künstlerische und landwirtschaftliche und Schriftsteller, Intellektuelle, alles hat – da ist ein Land entstanden, mit einer Bevölkerung entstanden, da ist eine Nation entstanden, da ist ein Volk entstanden, die Israel sind.
Das ist jetzt die Aufgabe, die es nach dem Zweiten Weltkrieg direkt nach dem Holocaust gegeben hat, auch für Deutschland oder für Österreich, zu sagen, wir unterstützen den Aufbau Israels – diese Phase ist ja vorbei.
Jetzt, finde ich, geht es auch darum, dass man sagt, aufgrund unserer Verantwortung für die Geschichte, die passiert ist, sollten wir auch gute Freunde sein. Und gute Freunde sagen sich auch, ey Alter, das geht jetzt gar nicht, was da passiert.
Du kannst nicht einfach eine Zivilbevölkerung über Jahrzehnte besetzen, denen keine Rechte geben und dich dann sozusagen immer weiter hinein verrennen in eine Besatzungspolitik, die natürlich die israelische Gesellschaft verändert hat und eben auch die Politik. Und deswegen sitzen dort jetzt rassistische Siedler-Minister in der Regierung, die immer weiter diesen Krieg auch in Gaza betreiben wollen, weil sie nicht aufhören wollen, weil sie im Grunde genommen eine radikalisierte Vorstellung davon haben, was Israel eigentlich sein sollte.
Und das, glaube ich, ist auch wichtig. Weil wir sehen das auf den Universitätscampussen und wir sehen das in den sozialen Medien. Diese machen viele junge Leute, glaube ich, schneller als die Regierungen. Haben irgendwie verstanden, dass da was schief läuft. Und ich glaube, dass das wichtig ist, dass wir das auch zumindest mal diskutieren.
Und ich fand eben die Reaktion der österreichischen Regierung in den letzten Jahren, sich so zu solidarisieren mit einer Regierung Netanyahu, das fand ich einseitig und auch nicht sehr hilfreich. Weil ich glaube, wenn wir die israelische Opposition jetzt unterstützen würden, wäre das sehr, sehr gut. Und das heißt aber, dass man auch sagen muss, ein Friedensprozess muss in Gang gesetzt werden. Wir brauchen einen Waffenstillstand. Wir müssen allen Seiten, die bereit sind zu schmerzvollen Kompromissen, auch helfen, dass das eine legitime Sicht auf den Konflikt ist.
Andreas: Du hast in deinem Text auch geschrieben, man kann so einen vertrackten Komplex nicht einfach mit Gewalt lösen oder eine Idee, wie die der Hamas, nicht einfach wegbomben. Also die Leute radikalisieren sich weiter und dann in zehn Jahren hat man wieder genau dieselbe Situation.
Das Gegenargument der Hardliner in Israel ist, ja bei den Nazis, man hat auch nicht die Idee weggebombt, aber es gibt immer noch Neonazis, aber man hat den ganzen Parteiapparat massiv reduziert und dann die Vertreter dieser Länder dazu gezwungen, einen komplett anderen Weg einzuschlagen. Und das ist auch gelungen. Kannst du diesem Vergleich oder diesem Argument was abgewinnen?
Tessa: Also ich finde genau diesen konkreten Vergleich völlig deplatziert aus einem Grund. Die Nazis wurden besiegt und die Deutschen hatten ein Land, das man aufbauen konnte mit demokratischen Strukturen.
Also wenn wir das jetzt umlegen auf die Palästinenser und sagen, die Hamas, vor allen Dingen die militärische Führung der Hamas, die das geplant hat, den 7. Oktober, dass man die erledigen will, vernichten will, besiegen will, auseinandernehmen will, die Tunnel zuschütten, die Waffen kaputt schießen – mir wäre es lieber, man würde die militärischen Anführer gefangen nehmen und ins Gefängnis stecken, als die alle zu ermorden bei der Arbeit – das ist ein legitimer Ansatz einer israelischen Regierung, die sich verteidigt gegen ein Massaker.
Aber was natürlich nach diesem Krieg passieren müsste, ist, dass die Palästinenser ein Land haben, das man aufbauen kann. Also nachdem dort eine Art Waffenpause entsteht, wenn dann nichts passiert, dann war das alles umsonst. Dann sind all die israelischen Soldaten, die da jetzt gestorben sind in den letzten 7 Monaten oder noch sterben werden, umsonst gestorben. Es sind auch alle palästinensischen Zivilisten, die ganzen Kinder und Frauen und auch die Hamas-Kämpfer sind umsonst gestorben.
Weil natürlich produziert so ein Krieg und so eine Grausamkeit, die sich über diese Zivilbevölkerung jetzt ergießt, produziert tausende Terroristen jeden Tag. Das ist völlig logisch, das weiß eh. Das wissen auch die Israelis natürlich. Die sind nur jetzt irgendwie ohne Strategie.
Weil wenn du da jetzt die Hamas dismantlest und da sind auch die westlichen Regierungen stehen da auch dahinter, dass man sagt, also diese Militärführung, mit denen kann man nicht verhandeln, das funktioniert leider schon nicht. Aber selbst wenn es funktionieren würde, wäre dann die große Frage, so wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, wir brauchen ein Land, in dem das aufgebaut werden kann, damit die eine Perspektive haben.
Und wenn die Palästinenser keine Perspektive auf einen eigenen Staat haben, dann werden die natürlich weiterhin sich durch irgendeine Art von bewaffnetem Widerstand, also der dann rangiert zwischen von BDS, also zivil Widerstand, bis zu militärischem, terroristischem Widerstand, engagieren. Das ist ja völlig logisch.
Deswegen ist der Vergleich zu sagen, okay, das ist die Lösung, man radiert die Nazis oder die Hamas aus und dann super und dann Demokratie – das funktioniert nicht ohne den Schritt, dass man einen Staat für die Palästinenser braucht. Das ist die Krux.
Andreas: Aber hilf mir das weiter durchzudenken, ist dann der Krieg per se, so wie er auch jetzt geführt wird, in einem sehr dicht besiedelten, schmalen Land, wo die meisten Leute damit nichts zu tun hatten, was da passiert ist, wo jetzt 30.000, der derzeitige Stand, Menschen, die gestorben sind, die meisten davon Zivilisten – und jetzt gibt’s, machen wir große Themen auf, aber ich würde mich nicht als Pazifisten sehen, und Krieg ist manchmal, glaub ich, die einzige Lösung. Zum Beispiel gegen Hitler.
Aber ist dann der Krieg per se in dieser Logik, kann legitim sein, auch so wie er jetzt geführt wird, wenn man danach einen Plan hätte, einen humanen, was danach passiert, und wenn man einen Plan hat, wie man diese seit 50 Jahren anhaltende Besatzung aufgibt und dort gemeinsam mit anderen Ländern der Region irgendwie Strukturen schafft, wo man dann schon wieder zusammenleben kann, so wie es dann auch in Deutschland passiert ist – kann der Krieg, so wie er jetzt ist, legitim sein? Oder wie denkst du darüber? Je weniger Krieg, umso besser, oder?
Tessa: Ich glaube, darüber könnten wir uns einigen. Paula, wie hätten wir reagieren sollen auf dich? Ich stelle nur Fragen, ich habe keine Ahnung.
Wir haben das nicht erst jetzt diskutiert, sondern bei all den früheren, diesen Kriegen gegen Gaza, die Israel angestrengt hat. Jedes Land hat das Recht, sich zu verteidigen. Das ist internationales Recht, wenn es angegriffen wird. Und das hat Israel natürlich auch.
Man könnte argumentieren, dass man über die Jahrzehnte schon eine ganz andere Politik machen hätte können. Und dann wäre es vielleicht zu diesen Kriegen nicht gekommen. Und ich glaube, es ist müßig, sich darüber zu unterhalten.
Man sieht, glaube ich, inzwischen sehen das ja sehr, sehr viele Leute auf der ganzen Welt so, nicht nur die Feinde Israels oder nicht nur Antisemiten oder nicht nur Antizionisten, aber dieser Krieg, der sich da abspielt, wirkt so falsch, weil er vom Ergebnis her sinnlos ist.
Also ich fürchte zum Beispiel, dass wenn es einen Waffenstillstand gibt, der irgendwann ja dann kommen wird, wird man unter Umständen – so schrecklich das ist – aber so Leute, die den 7. Oktober auf der Hamas-Seite mitgeplant haben, mit internationaler Absegnung nach Doha ausreisen lassen müssen. Was soll denn das für ein gerechter Krieg sein? Das ist auf allen Seiten eine Katastrophe.
Das wird aber deswegen passieren müssen, weil die Israelis, die bisher nicht gekriegt haben, das heißt da sterben jetzt seit 7 Monaten Zivilisten und natürlich auch Hamas-Anführer und alles Mögliche, was da irgendwie alles jetzt umgebracht wird. Aber die, die es geplant haben, die irgendwo vielleicht auch gar nicht mehr in Gaza sind, also man nimmt an, sie sind in Gaza, aber sie sind bisher nicht erwischt worden.
Das ist alles irgendwie so – mir kommt das wie ein Absurdismus vor, dass man solche Kriege führt oder auch noch weiter jetzt führt, wo man das jetzt eh schon weiß. Da sterben ja lauter Leute auch und auf der israelischen Seite, die das nicht müssten, wenn man sagt, okay, wir müssen jetzt einen Friedensprozess machen auf der Basis von dem, dass Israel sich verteidigt hat gegen einen fürchterlichen, terroristischen Anschlag am 7. Oktober. Und jetzt schauen wir mal, was da eigentlich Sinn macht.
Also Gaza kaputtzubomben und dann wieder aufzubauen, macht im Prinzip überhaupt keinen Sinn. Das kostet ja nur Geld. Und die Verzweiflung der 2,5, 2,2, 2,4 Millionen Palästinenser im Gazastreifen ist ja eine Sache. Die der 2,5 Millionen Westbank-Palästinenser ist ja eine andere. Die Leute radikalisieren sich ja ununterbrochen. Auch in Israel natürlich. Die Schuld trägst tief Hamas teilweise in jeder Hinsicht auch.
Wir müssen die radikalisieren und die Israelis radikalisieren. Insgesamt muss man sozusagen eine politische Führung und politische Perspektiven schaffen und nicht den Krieg ewig weiterführen.
Andreas: Na ja, da gibt es großartige und viele Ideen seit Jahrzehnten, man muss dazu zurückfinden, dass das die einzige Möglichkeit ist, dass man sich überlegt, wie kann man allen Bewohnern dieses Landes Bürgerrechte geben, schaffen. Auch frei wählen, die nicht dazu führen, dass auf der einen Seite die Hamas gewählt wird und auf der anderen Seite radikale Siedler. Das wird sehr schwer werden.
Es ist nicht so, dass ich da sehr optimistisch bin. Auf der anderen Seite, als ich im Februar in Tel Aviv, in Haifa im Süden und auch in Ramallah in der Westbank, in Jerusalem war, es ist schwer, Leute zu finden, die nicht radikalisiert sind. Es ist schwer, Leute zu finden, die sagen, sie möchten der anderen Seite eine Chance geben unter den Umständen, unter denen die jetzt alle sitzen.
Gleichzeitig gibt es keine Mehrheit für einen ewigen Krieg. Und das muss man auch im Kopf behalten. Also ein Angebot für friedliche Lösungen. Und deswegen finde ich es immer ganz gut, wenn man auch Vergleiche zieht, die so sind wie z.B. Nordirland. Die Leute haben sich bis 1998 gegenseitig die Bomben gelegt oder sich umgebracht. Und seitdem eben nicht, weil es hat die EU eine Perspektive eröffnet zu sagen, ihr könnt Bürger sowohl Irlands als auch Großbritanniens sein. Ihr habt dieses gemeinsame Staatsgebiet, auf dem ihr euch aufhaltet und wo ihr eure eigene Sache machen könnt. Manche Leute gehen vielleicht nicht in die anderen Bezirke, wo die anderen wohnen. Wollen nicht, dass ihre Kinder die andere Seite heiraten. Kann jeder machen, wie er will, solange die andere Seite auch Bürgerrecht hat.
Und das ist sozusagen die Perspektive in Israel. Und bevor wir dann gleich über Zwei-Staaten-Lösungen reden und gleich alle Leute beim Podcast anrufen und sagen, sie ist für oder gegen eine Zwei-Staaten-Lösung usw. So wie bei Omri Boehm, der dann am Ende als israelisch-deutscher Philosoph nicht am Judenplatz hätte sprechen sollen und es dann doch getan hat – kann ich nur sagen, die Ideen auf den Tisch zu legen und zu diskutieren, wie in Israel und Palästina die jeweiligen Bevölkerungen ihr Zusammenleben organisieren, die sollte man schon von vornherein nicht kriminalisieren, sondern eher mit offenen Augen betrachten.
Klar ist, es kann nur eine Lösung des Konfliktes geben, wenn es keine Hierarchie mehr gibt, sondern die Leute gleiche Rechte haben.
Tessa: Ja, und das ist doch ganz interessant. Wir sitzen hier in Wien, das ist ja logisch. Wir haben uns den universalistischen Prinzipien der Menschenrechte verschrieben. Wir haben das natürlich leicht reden, weil wir sitzen hier an einem gewissermaßen sicheren Ort.
Das ist für Israelis und Palästinenser 2024 enorm schwierig geworden für viele Leute zu denken, dass die anderen dieses Recht auf eine gerechte Behandlung, auf eine Bürgerrechte für alle, für eine Gleichheit in ihrem Verständnis ihres Selbstbestimmungsrechts haben.
Aber das geht natürlich nur so. Vielleicht müssen wir das hochhalten für die, die das nicht mehr glauben. Aber ich glaube, das ist wichtig.
Andreas: Hilf uns mal, diese zu verstehen, was in den Köpfen auf den beiden Seiten passiert ist in den letzten sieben Monaten. Diese Radikalisierung auch auf beiden Seiten und diese teilweise Entmenschlichung oder sehr oft auch die Entmenschlichung. Was passiert da? Schauen wir uns mal auf israelischer Seite an. Was hat dieser 7. Oktober so im kollektiven Gedächtnis und Verständnis gemacht?
Tessa: Ich glaube, das Gute an der israelischen Gesellschaft ist ja, dass es eine pluralistische Gesellschaft ist. Dass Leute sehr unterschiedliche Meinungen haben können und die auch ausdrücken. Das ist jetzt auch nicht so, und ich kann das auch nicht natürlich jetzt sagen für alle Israelis.
Mir ist in vielen Gesprächen aufgefallen, dass es sehr unterschiedliche Reaktionen gibt. Es gibt Leute, die sagen, umso mehr müssen wir Frieden machen. Ich habe im Februar einen Mann, einen Israeli getroffen, Maoz Inon heißt der, der war immer schon ein friedensbewegter Aktivist und hat Hostels gegründet, wo jüdische und arabische, palästinensische Israelis auch wohnen können, überall in Israel und so. Und kommt aus Nazareth, dort haben sie das auch.
Und dessen Eltern wurden am 7. Oktober umgebracht in einem Kibbutz. Und ich habe zu ihm gesagt, Maoz, wie schaffst du das? Nach dem Mord an deinen Eltern für Frieden zu sprechen. Ich meine, viele Leute sagen, okay, aus. Das sind lauter Mörder und mit denen können wir es nicht machen.
Und er hat gesagt, Tessa, es sind genug Leute gestorben. Es reicht. Wir haben so viele Leute verloren. Worauf warten wir jetzt noch? Wir brauchen jetzt den Frieden.
Das ist für mich so ein Statement, wo ich mir denke, ja genau, natürlich. Das ist das, was man lernt aus totalitären Erfahrungen, aus Krieg, aus Verzweiflung. Deswegen hat man Israel gegründet, um herauszukommen aus der Verfolgung auch.
Und das ist das Schwierige für die israelische Gesellschaft, einen Weg zu finden, zu sagen, wir haben unseren Staat aufgebaut, wir müssen die anderen auch den Staat aufbauen lassen.
Das ist das eine. Und ich finde es vollkommen unmöglich, dass die Leute sich da aufrechnen, warum reden die immer über den 7. Oktober? Ja, die reden immer über den 7. Oktober in Israel oder die Juden auf der Welt, weil es sie total erschüttert hat und retraumatisiert hat. Das soll man den Leuten nicht wegnehmen, das soll man ihnen auch nicht verweigern.
Das kann man auch nicht, das sind ja nicht Sachen, das finde ich ganz wichtig, dass man das auch immer wieder betont, auch in Gesprächen. Ich habe in jedem Gespräch in Israel mit Israelis, also mit jüdischen Israelis, die gesagt haben, niemand unterstützt euch, warum lasst ihr uns allein? Da habe ich gesagt, das stimmt nicht.
Wir sind alle in Europa in diesem Schmerz um diese Entsetzlichkeiten. Ich habe niemanden getroffen in Europa, niemanden, der gefunden hat, dass das okay ist, dass man Babys abschlachtet. Und das ist glaube ich auch wichtig, dass man, wenn man mit Leuten spricht, dass man ihnen auch sagt, dass sie nicht allein sind.
Weil das allein, dieses Gefühl, dass viele Juden haben in der Welt, dass sie allein gelassen werden mit ihrer Erschütterung. Das ist natürlich schrecklich. Und das sollten sie auch nicht haben, weil ich auch nicht glaube, dass es stimmt.
Es gibt viele Leute, die sozusagen sich da abgewendet haben, auch durch den Krieg. Und das ist die andere Seite der Geschichte. Man kann den Palästinensern jetzt nicht sagen, es tut mir leid, wir müssen Israel unterstützen, weil wir haben nämlich den Holocaust auf dem Gewissen. Und dann sagen die Palästinenser, ja danke, aber wieso sollen wir deswegen umgebracht werden?
Und überall, alle Palästinenserinnen und Palästinenser, die ich getroffen habe irgendwo in Ramallah und sonst wo, haben gesagt, wieso lasst ihr uns im Stich? Wieso liefern eure Regierungen Waffen, mit denen wir hier in Gaza dann unsere, also das waren, ich war ja nicht in Gaza, die in Ramallah haben gesagt, damit werden dann unsere Leute in Gaza bombardiert und umgebracht.
Und was soll ich darauf sagen? Ich bin keine kleine Österreicherin, das ist ja wahr. Wir wollen, dass Israel sicher ist. Wir wollen aber nicht, dass die Palästinenser deswegen sterben müssen. Und diese komplizierte Position ist in Wirklichkeit nicht so kompliziert.
Als EU kann man sich dafür einsetzen, dass beide Völker das Recht bekommen, dort zu leben, in Sicherheit, in sicheren Grenzen und mit Bürgerrechten ausgestattet.
Das, was in Amerika passiert, was Joe Biden jetzt in diesen Wochen versucht zu sagen, wir liefern euch vielleicht keine Waffen mehr, keine Artillery Shells, um Gaza zu bombardieren, um Rafah jetzt platt zu machen, ist eine Sache, die sehr interessant ist.
Gleichzeitig hat er gesagt, wir werden euch immer Waffen liefern, um einen Iron Dome sicherzustellen, damit die Feinde Israels Israel nicht angreifen können, von außen und von innen. Und das, glaube ich, ist eine Position, die für einen amerikanischen Präsidenten schon revolutionär ist.
Und ich möchte eigentlich ganz gerne, dass das diskutiert wird, auch in Europa, welche Hilfe eigentlich gut ist für beide Seiten und was dazu führen kann, dass die sich an den Tisch setzen und Verhandlungen beginnen.
Andreas: Warum ist es in der österreichischen Politik so schwer, da sich differenziert zu äußern? Ist es die Angst vor kontroversen Themen? Weil man muss das irgendwie differenziert argumentieren. Und da ist Social Media vorher schon explodiert. Oder ist das einfach die Überzeugung der führenden Minister in dieser Debatte? Hast du da eine Einsicht für uns?
Tessa: Also diese seltsame Koalition von Rechtspopulisten auf der Welt, wo sich eben Regierungen wie die Überbleibsel jetzt von der Kurz-Türkisen-Bewegung in der österreichischen Regierung gemeinsam mit Viktor Orbán dann mit Benjamin Netanyahu mehr solidarisieren als mit klassischen konservativen Kräften. Das ist eine Sache, die führt in Österreich dazu, dass man sich meiner Meinung nach keine kritische Politik erlaubt.
Das ist natürlich aus historischen Gründen auch so. Also ich bin wirklich auch froh, dass wir in Österreich oder in Deutschland keine antisemitischen Wortmeldungen auf Regierungsebene haben. Das hätte ja auch so sein können. Man muss auch be careful what you wish for. Das ist natürlich auch eine komplexe Situation. Also Vorsicht ist geboten.
Aber warum dann hier Institutionen sich zurückziehen als Sponsoren für eine Rede wie die von Omri Boehm am Judenplatz, die Rede zu Europa, in der es darum ging, dass man sagt, Europa ist ein gutes Modell, vielleicht schauen wir uns das mal für den Nahen Osten an. Das ist das, was er letztlich als Philosoph gesagt hat.
Dass da Institutionen einknicken, halte ich für totalen Quatsch, weil das führt nicht dazu, dass wir offene Diskussionen führen können, die auch überhaupt nicht hetzerisch oder sonst was sind. Weil dafür gibt es ja dann auch noch eigene Gesetze. Da kann man dann auch darüber diskutieren, wie man umgeht, damit wenn Leute tatsächlich Plattformen dazu benutzen, um zu hetzen oder auch antisemitisch zu werden, was bei unserer Geschichte besonders unappetitlich ist. Dafür müssen wir uns schützen.
Das können wir aber glaube ich nur, indem wir die Diskussionen führen, die zu führen sind und nicht uns verstecken oder aus vorauseilender Vorsicht alles absagen.
Ich habe das jetzt ein paar Mal erlebt, wie das in Deutschland oder in Österreich passiert. Und das halte ich überhaupt nicht für zielführend. Auch diese Universitätsvorlesung oder der Talk, den Rashid Khalidi an der Wiener Uni gehabt hat, da hat ihm sein Verleger vom Campus-Verlag, das hat er mir gestern in einem Interview erzählt, der hat ihm gesagt, wenn du nicht gecancelt werden willst, dann komm nicht nach Europa, sondern bleib in New York und wir machen das online.
Deswegen kann er jetzt in Berlin oder in Wien eben auch seine Vorlesung und den Talk haben. Da schalten sich dann 600 junge Leute zu. Auch nicht schlecht, das Interesse daran. Dort kann er sein Buch vorstellen und auch seine Thesen. Da kann man dann sagen, Rashid Khalidi ist zu radikal in seinem Ansatz, die gesamte Geschichte des Nahost-Konflikts als Siedlerkolonialismus Israels darzustellen.
Und dann kann man sich darüber streiten. Das habe ich gestern Nacht bei dem Interview mit ihm gemacht. Mit sehr interessanten Einsichten, die man dann auch bekommt, wo er auch spürt, was der Diskurs zum Beispiel ist in Österreich oder in Deutschland. Das ist, glaube ich, für alle Teile gewinnbringend, wenn man das macht.
Und man hat es ja gesehen, auch mit der Vorlesung von Rashid Khalidi, dass dann kein Vorlesungssaal zur Verfügung gestellt wurde, wo seine Online-Lecture hineingehen hätte sollen. Und dann waren die Leute halt auf dem Hof vom AKH und haben dort für auch das Recht, ihn zu hören, demonstriert. Da würde ich jetzt zum Beispiel als Staatsgewalt auch nicht unbedingt die Polizei reinschicken. Außer die Leute benehmen sich schlecht und fangen an, antisemitische Sachen zu sagen oder auch selber gewalttätig zu werden. Dann braucht es eine Polizei.
Andreas: Gewalt ist klar und Polizei… Also die Frage ist dann auch, ab wann löst man es auf, hat der Robert Misik gerade auf zackzack.at einen tollen, auch sehr differenzierten Text geschrieben, wo er gesagt hat, mit der Logik, wie da teilweise mit Studierenden-Demos umgegangen wird, müssten wir jede FPÖ-Demo oder hätten wir jede Corona-Demo sofort auflösen müssen. Weil nur weil ein paar Leute vielleicht den Hitlergruß zeigen, dann muss man das anzeigen und die Leute herausfischen. Aber man löst nicht gleich die ganze Demo auf.
Tessa: Genau. Ich meine, Robert Misik und ich haben in den 80er Jahren auf der Opernball-Demo sind wir zusammen runtergerannt. Er hat gewusst, wie es geht. Ich war ein bisschen langsam. Und er hat plötzlich gesagt, Tessa, jetzt rennen wir. Und dann hat er mich an der Hand genommen und wir sind den ganzen Naschmarkt runtergelaufen. Die Polizei hinter uns her. Das war natürlich Kinderkram damals.
Aber es hat mir damals schon gezeigt, wie schnell das alles auch gehen kann. Wir haben da demonstriert, dass der Opernball reiches Quatsch ist. Das war im Vergleich harmlos.
Aber ich glaube, dass das ganz wichtig ist, dass man diese Studenten-Studierenden-Proteste nicht einfach verteufelt. Das ist erstens ein Generationenkonflikt. Die Leute finden immer alle radikalen Äußerungen von 20-Jährigen irgendwie wahnsinnig doof.
Ich finde das überhaupt nicht. Vielleicht deswegen, weil ich Kinder in dem Alter habe, die auch nicht unbedingt jetzt im AKH im Hof sitzen würden. Aber man muss doch mal zuhören und nicht sofort glauben, dass das alles auch antisemitische, antizionistische Hasspredigten sind.
Ich glaube, dass das bei vielen von denen entstanden ist, aus einer Politisierung, aus einem neuralgischen Punkt, dass es einen Krieg gibt, dem man minütlich zusehen kann, wie Zivilisten dort in Stücke zerbombt werden. Und dass da junge Leute das Gefühl haben, nein, das wollen wir nicht, und jetzt anfangen darüber zu diskutieren.
Und darum ging es in meinem Essay auch, dass ich nach New York kam im November und bei meiner Tochter Sofa das Buch von Rashid Khalidi lag. Und ich dachte, wow, die lesen das jetzt. Den habe ich schon gelesen in den 80er Jahren, als ich in diesem Alter war wie meine Kinder jetzt.
Und das hat mich beeindruckt, weil das nicht einfach irgendeine Mainstream-Literatur zu Israel ist, sondern eine sehr kritische Auseinandersetzung. Und deswegen glaube ich, dass viele Leute diesen Denkprozess begonnen haben unter der Generation der 20- bis 30-Jährigen, die sich damit nicht so genau auseinandergesetzt hatten.
Und ich finde das total super, wenn die das tun und dass man auch verschiedene Autorinnen und Autoren dazu liest und Meinungen hört. Weil es geht ja letztlich auch darum, ob jetzt der Zionismus zum Beispiel, ob das jetzt ein Schimpfwort wird, so wie bei vielen Leuten auf diesen Demos, dass man auch erklärt, dass es auch einen liberalen Zionismus gibt.
Also ungefähr den von Omri Boehm oder auch wie meine Tochter Emma, die sich da engagiert und die jetzt über Zionismus mit ihrem Freundeskreis Workshops abhält, um darüber zu diskutieren, wo kann man da eine demokratische Version des Zionismus auch nicht nur eruieren, sondern auch hochhalten. Weil das für die Existenz Israels natürlich immens wichtig ist.
Andreas: Und kurz zur Erklärung, Zionismus ist eine politische Bewegung, die sich dafür eingesetzt hat und einsetzt, dass Jüdinnen und Juden einen eigenen Staat haben.
Tessa: Ja, das kann man so sagen. Und das ist halt entstanden. Wir haben da einen hervorragenden Vertreter, einen der Gründer dieser Bewegung, Theodor Herzl, ein Wiener, der eigentlich im Burgtheater als Schriftsteller aufgeführt werden wollte und dann aufgrund der antisemitischen Ausschreitungen und auch der Stimmung in der Bevölkerung gelernt hat, dass er eine Alternative suchen wollte.
Er war nicht allein. Viele Leute wurden in Zionisten-Kongressen abgehalten. Es gab eine unglaublich tolle Diskussion mitten in diesem Nationserweckungs-Prozess, der gerade in Österreich, Ungarn, ja auch Ende des 19. Jahrhunderts im vollen Gang war.
Und da hat sozusagen, wenn man es jetzt kurz fasst, sich Herzl gedacht, eine Heimstatt, ein Staat für die Juden wäre eine gute Idee, dann hätten wir das Problem nicht mehr, dass wir überall rausgeschmissen werden oder verfolgt werden. Und das war der Ursprung.
Zion als Fokuspunkt hat sich angeboten, weil das in der Bibel erwähnt und belegt ist, dass die Juden in Jerusalem ein Königreich hatten. Also dort herstammen sozusagen. Deswegen wurde Uganda nicht als Heimstatt gewählt, sondern dieser Anziehungspunkt der Identifikationserleichterung war eben, Jerusalem war Israel. War das gelobte Land.
Damit begannen ziemlich viele Probleme, weil natürlich das gelobte Land schon ein Volk hatte. Nämlich die Palästinenser. Dazu gibt es dann noch mal eine eigene 10-Stunden-Vorlesung in “Erklär mir die Welt” zur Geschichte Israels.
Aber Tessa, du hast gesagt, und da stimme ich dir total zu, da wird teilweise viel zu repressiv mit den Studierenden umgegangen. Und da muss man auch mit Leuten wie Rashid Khalidi, auch wenn man deren Meinung nicht teilt, die sind absolut in dem Spektrum des legitimen, politischen Diskurses, den man führen muss. Da kann man dann sehr kritisch sehen, aber mit den Leuten muss man reden.
Und auch viele Studierende haben da vielleicht oder haben legitime Kritikpunkte, die auch im österreichischen Diskurs zu wenig vorkommen, denke ich, gleichzeitig. Und das ist auch wieder so eine Sache, wo ich mir so schwer tue, dann eine Meinung zu haben zu diesen Themen.
Gleichzeitig, wenn man sich damit beschäftigt hat, was da auch an amerikanischen Universitäten passiert ist, gab es da ja auch ziemlich viele Unausgeglichenheiten, auch wieder von beiden Seiten. Also israelische oder jüdische Studierende, die auch gleich nach dem 7. Oktober mit Israelflagge dann attackiert worden sind. Das ist auch umgekehrt genauso.
Nimm uns einmal ein bisschen auf die Universitäten mit, was sich da in den letzten Monaten getan hat und wie du auf diese Sache blickst.
Tessa: Also es gibt Universitäten, die als politische Universitäten schon immer den Ruf hatten, auch Studentenrevolten auszulösen. Zum Beispiel eben Columbia University, das ist eine sehr politische Universität, sehr progressiv in New York City. Also sozusagen das ist das intellektuelle Hoheitsgebiet der Ostküste.
Da haben sich schon viele Studentenproteste entzündet, auch gegen den Vietnamkrieg und gegen den Irakkrieg und gegen alles, wo halt die amerikanische Regierung, die eine der großen Supermächte, der militärischen Supermächte ist, sich eben manchmal in Konflikte auch einlässt, wo dann die Bevölkerung sagt, warum eigentlich?
Und das ist natürlich an Universitäten der richtige Ort, darüber zu diskutieren, weil Studenten und Studentinnen bekanntlich dafür Zeit haben, während andere arbeitende Menschen das gar nicht hätten.
Aber abgesehen davon, also das ist an verschiedenen Universitäten mit verschiedenen Dingen und diese Proteste, die es gleich direkt nach dem 7. Oktober und dem Beginn des Krieges auch gegeben hat, da gibt es wirklich sehr unterschiedliche Gruppen und manche sind antisemitische Sachen dabei, die dort gesagt werden und auch innerhalb des antizionistischen Lagers springt da ganz viel um, auch auf generelle Verteufelung mit antisemitischen Bildern und alten Verschwörungstheorien, wo ich glaube, dass man höllisch aufpassen muss, wohin sich das entwickelt.
Und das habe ich gestern Nacht auch Rashid Khalidi, der da an der Columbia das alles beobachtet, gefragt, ob er nicht Angst hat, dass auch einfach er als Professor, der eine klare politische Linie, die sehr Israel-kritisch ist, auch in seinen Vorlesungen aufgrund seiner Bücher lehrt, dass sich die Leute unter seiner Hand radikalisieren und er die auch nicht mehr einfangen kann.
Also jetzt inzwischen ist die Boykott-Bewegung immer stärker. Der Antizionismus wird verteufelt. Wo geht das hin? Und da, glaube ich, muss man aufpassen, diskutieren und sich das genau anschauen. Die Leute, die jetzt Unipräsidentin, also Direktorin einer Uni in Amerika zu sein, das halte ich für einen wirklich, wirklich schwierigen Job. Also bin ich ganz froh, dass ich das nicht bin.
Andreas: Ganz kurz, was hat Khalidi geantwortet auf die Frage, ob er nicht Angst hat, dass die Leute sich unter seinem Schirm radikalisieren?
Tessa: Ja, er war dann nicht so besorgt. Und ich hab ihm dann eben auch ein Zitat von einem Studenten, der im Jänner bei seinem Online-Talk, es gibt so ein Video davon auch im Netz, der hat gesagt, “Zionists don’t have the right to live.” Weil sie den Palästinensern auch kein Recht zu leben geben.
Und das zum Beispiel, also das erschreckt mich, und da hat die Unileitung einzugreifen, das haben die auch gemacht, die haben den Typen suspendiert. Und der hat sich auch entschuldigt. Und das “Solidarity with Gaza Encampment” hat auch offiziell gesagt, dass es diese Art von Rhetorik überhaupt nicht unterstützt.
Und Khalidi sagte eben auch, ich meine, diese Möglichkeiten hat ja jeder. Die Unileitung hat das, also das ist alles eine, wenn Leute so was sagen, was hetzerisch ist und was auch gefährlich ist, dass man die auch zurechtweist oder ihnen das auch erklärt.
Khalidis Meinung ist, und das ist auch meine, dass ich das eher mit Bildung als mit Verboten versuchen würde, die Leute auch dazu zu kriegen, zuzuhören. Aber ich glaube, dass wir die Möglichkeit nicht ausschließen dürfen, dass die Leute sich radikalisieren und alles über Bord werfen.
Dass die Kritik an der israelischen Regierung dazu führt, ganz Israel zu verdammen, das wissen wir aus vielen Beispielen, wie wir das selber machen, dass man sagt, ja, die Russen. Natürlich ist es Putin und sein Regime und nicht die Russen, die hinter diesem Krieg in der Ukraine stehen.
Deswegen müssen wir einfach so aufpassen, auch auf das, wie wir Sachen aussprechen, wie wir in Gespräche gehen, damit die Leute sich A nicht allein gelassen fühlen und B sich auch nicht verrennen. Und zwar auf allen Seiten.
Andreas: Ich möchte gern was vorlesen von Robert Misik, deinem Opernball-Demonstranten-Freund, der übrigens auch schon mal bei “Erklär mir die Welt” zu Gast war und Victor Adler erklärt hat.
Und der schreibt in dem Text “Die Verfassung hasst” auf zackzack.at: “Viele Studierende lassen eine Empathie für die Geschändeten, Ermordeten, Vergewaltigten, bestialisch Gefolterten und für die entführten Geiseln vermissen. Sie haben da einen Teil ihres Gemütsapparats auf Gefühlskälte gestellt, weil sie ansonsten mit ihrem Weltbild in Konflikt geraten würden.
Umgekehrt sind auch viele Anhänger der Netanyahu-Regierung in eine emotionale Dynamik der völligen moralischen Enthemmung geraten, bis hin zu der haarsträubenden These, dass es in Gaza keine unbeteiligten Zivilisten gäbe. Gaza wird dem Erdboden gleichgemacht, in Tschetschenien verwandelt. Der Hunger und der Tod verrichten ihre Arbeit des Grauens, aber davon sind die Extremisten der anderen Seite wiederum unberührt und verleumden diejenigen als Antisemiten, die sich Empathie für alle Opfer bewahrt haben.”
Ich finde den Text auch sehr gut.
Tessa: Aber ich meine, ich bin befangen. Robert Misik und ich sind sehr gut befreundet. Aber das hat halt auch einen Grund. Wir haben 1989 in der AZ zusammen angefangen, die demokratischen Reformbewegungen in Osteuropa zu verfolgen und jede Woche eine demokratische Wahl in Osteuropa zu sehen.
Wir sind sozusagen damit aufgewachsen, eigentlich glückliche Kinder, die als junge Erwachsene den Durchbruch der Demokratie erlebt haben. Wir mussten auch nicht demonstrieren für Leib und Leben. Wir mussten auch nicht um unser Leben und Leib rennen, sondern nur vor der österreichischen Polizei beim Opernball.
Und was der Robert da schreibt, ist ein Aufruf dazu, sich nicht eben entmenschlichen zu lassen und nicht alle Hemmschwellen fallen zu lassen und auch nicht immer zu glauben, dass alle anderen dazu bereit sind, den Massenmord zu begehen. Das ist nämlich auch nicht unbedingt der Fall.
Ich fand das auch, der Daniel Kehlmann hat das letztens in einem Interview auch schön gesagt und auch die Eva Menasse, die ich gestern als Gast hatte im Kreisky Forum, dass man schon ein Verständnis der Menschlichkeit und einer gesellschaftlichen Verfasstheit darüber, dass man darauf auch vertrauen soll, dass nicht alles kaputt geht.
Wir müssen die Demokratie verteidigen, wir müssen sie verteidigen vor Leuten, die sie angreifen. Wir sehen in Ungarn oder in der Slowakei oder gerade seit gestern in der Slowakei, was für Irrtümer passieren, wenn Leute demokratische Regeln nicht ernst nehmen. Bis hin zu der Tatsache, dass jemand versucht, einen Premierminister auf offener Straße zu erschießen. Das ist eine Katastrophe natürlich.
Aber dass wir auch gleichzeitig nicht völlig jetzt nur noch davon fantasieren, dass alles den Bach runtergeht, sondern dass wir uns einfach dafür einsetzen, dass die Regeln, die wir uns gegeben haben, die demokratischen Strukturen, die wir haben in diesem Land, aber das zum Beispiel auch Israel von seiner Verfasstheit eigentlich hat, dass die eingehalten werden. Und das bedeutet eben, dass die Leute Rechte bekommen sollen und nicht aus der Luft bombardiert, ohne dass sie sich wehren können.
Andreas: Ja, ich würde gern noch bei der Entmenschlichung bleiben, die da Robert beschrieben hat und mit der du dich ja auch viel beschäftigt hast. Du schreibst in deinem Text, dein Sohn Adam hat dich angerufen, 7. Oktober, hat dich gefragt, wie können Menschen so was machen? Und du hast dich ja in deiner Dissertation mit Selbstmordattentätern beschäftigt.
Und wenn ich mir das so bildlich vorstelle, den 7. Oktober, da gibt es vielleicht Leute im Gazastreifen, die haben sich zum Wecker gestellt, auf 4.30 Uhr oder so, haben geduscht, vielleicht gefrühstückt, einen Kaffee getrunken, der Frau noch einen Kuss gegeben, dann haben sie sich aufs Moped gesetzt, die Kalaschnikow umgeschnallt und sind dann über die Grenze nach Israel, haben da wild herumgeschossen, Leute erschossen, auf Frauen die Zähne eingeschlagen, damit sie sich besser vergewaltigen können, Sachen niedergebrannt und dann sind sie entweder weiter gefallen oder sind wieder nach Hause.
Wie, was muss passieren, dass ein Mensch zu so was im Stande ist?
Tessa: Also ich hab mich deswegen auch damit beschäftigt, weil es eben nicht erklärbar ist für mich. Und ich glaube, das ist auch gut, dass es nicht zu erklären ist. Weil es tatsächlich schrecklich wäre, wenn es eine Anleitung dafür gebe, wie so was halt möglich ist und das Leute dann halt so sind.
Das kommt aus einer Situation eher, dass Leute verführbar sind von manipulativen Anführern in einer Lage, die verzweifelt ist. Manchmal ist sie auch gar nicht so verzweifelt, sondern rührt aus auch historischen Traumata daher.
Also das war in meiner Dissertation so die Grundthese, dass ich mir damals angeschaut habe, warum so viele Tschetschenen und Palästinenser, die eigentlich nicht aus einem islamistischen Umfeld gestammt haben, dass auch die Gesellschaften keine streng Religiösen waren, sondern die Tschetschenen unter sowjetischem Einfluss waren relativ moderat, wenn sie Moslems waren, und die Palästinenser, zumal in der Westbank ja, nicht ultrareligiös im Allgemeinen.
Warum da so viele Leute damals Selbstmordbomber geworden sind? Also das Radikalste, was man sich vorstellen kann, wenn man sein eigenes Leben auch gleich auslöscht, ohne Chance darauf, dass man fliehen kann nach einem Attentat.
Und hab dann auch interviewt unter Aufsicht, ich war in einem israelischen Gefängnis, um dort eine Selbstmordattentäterin, die noch geschnappt wurde, vorher zu interviewen. Oder in Grozny im Gefängnis mit tschetschenischen Attentätern, die dort in einem russischen Gefängnis gesessen sind, auch über diese Themen geredet, woher, was sie da bewegt hat, wie sie dazu gekommen sind.
Und die haben nach wie vor eigentlich immer gesagt, sie stehen dazu. Also das ist nicht so, dass die Leute dann aufwachen und sagen, oh, das war ein Irrtum und jetzt schauen wir mal, wenn wir hier wieder rauskommen. Sondern diese radikalisierten Hirne bleiben oft auch an diesem Ort irgendwo, weil sie ja auch im Gefängnis sitzen, wo sie immer weiter unter Umständen radikalisiert werden.
Und es ist ganz schwer, da hinauszukommen, auch weil man ja dann die letzte Würde verliert, wenn man auch umsonst dann irgendwo rumsitzt im Gefängnis und das gar nicht mehr glaubt, warum man eigentlich dafür hineingegangen ist und so.
Aber was mir so klar geworden ist, ist erstens, dass man es nie ganz erklären kann, aber dass wir alle recht leicht zu beeinflussen sind. Und wenn man in einer Lage ist, wo vor allen Dingen die Würde auch nicht gewahrt wird, des Individuums nicht, aber auch eines Volkes nicht, wo es für große, traumatische, historische Umwälzungen und Ungerechtigkeiten keine Entschuldigung gibt, sodass man sich auf Augenhöhe mit denen, die das begangen haben, auch treffen kann, dann kommen die immer wieder zurück. Dann kommt die Gewalt immer wieder zurück.
Und zum Beispiel bei den Tschetschenen, was man ja schon fast vergessen hat, aber 1944, und das war meine Dissertation, da saß ich einen Winter lang, im Winter 2003, 2004 im Staatsarchiv, im russischen Staatsarchiv in Moskau, und hab die Original-Telegramme, die Lawrenti Beria, jetzt ist es ein bisschen kompliziert, aber Lawrenti Beria, der Geheimdienstchef Stalins, an Stalin geschickt hat, aus Grozny, wo er gesagt hat, okay, wir haben das gesamte tschetschenische Volk in diesem Februar 1944 in Viehwaggons verladen und nach Zentralasien, nach Kasachstan abgeführt.
Die waren einfach weg nach dieser einen Woche. Das war leer, das Land, und dann hat man irgendwie Russen geholt und dort nach Grozny und in diese ganzen umliegenden Dörfer und Berge irgendwie umgesiedelt. Und niemand hat sich bei denen jemals entschuldigt.
Die haben das dann versucht. Nachdem Stalin weg war, hat Chruschtschow es ein bisschen versucht. Und dann Ende der 80er, Anfang der 90er, Glasnost und Anfang der russischen Demokratie haben sie versucht irgendwie zu sagen, das war nicht okay, dass man diese, das waren ja nicht nur die Tschetschenen, das waren auch die Inguschen und die Krim-Tataren und die Deutschen, ja. Die wurden alle ja irgendwie quer durch das sowjetische Reich verschleppt und irgendwo ausgesetzt. Und ein Viertel dieser Bevölkerung, dieser Völker sind gestorben auf dem Weg.
Das wurde in der Sowjetunion nicht unterrichtet. Also man hat sich nicht nur nicht entschuldigt, das war nicht mal bekannt. Und das so tschetschenische, kollektive Gedächtnis, diese Ungerechtigkeit, die mussten dann auch einfach wieder zurückkommen.
Und da waren natürlich andere Leute, die sind nach Jahrzehnten teilweise zurückgekommen. Da waren andere Leute natürlich längst in ihren Häusern. Kein Mensch, da gab es keine Restitution oder eine Diskussion in der ganzen Sowjetunion, der ganzen russischen Geschichte keine Diskussion über die Ungerechtigkeiten der Geschichten, über die Repressionen gegen die eigenen Leute, gegen die verschiedenen Völker.
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d ich glaube, das ist ganz wichtig in jeder Diskussion, die wir jetzt haben und das führt bis heute zur Dekolonisierungsdiskussion. Bei der Dekolonisierung geht es nicht darum zu sagen, alle Briten sind schlecht, sondern dass das britische, das Vereinigte Königreich Unrecht begangen hat und dass man das sowieso nicht wiedergutmachen kann, aber dass man darüber reden muss, welche Verantwortung daraus erwächst.
Und nur dann wird es für die, ob das jetzt die indischen Briten sind, die pakistanischen Briten oder auch die aus Jamaika, die Nachkommen der Sklaven, die aus Afrika dorthin geschleppt wurden und so weiter und fort. Erst wenn das alles besprochen werden kann, gibt es meiner Meinung nach eine gute Chance, dass die Leute auf Augenhöhe miteinander reden und auch auf Augenhöhe sich dazu bekennen können, dass sie die gleichen Rechte haben in einer demokratischen Struktur.
Und so ist das letztlich ganz am Ende von all diesen ganzen kolonialistischen Debatten, wo sehr viele Leute sagen, ach, jetzt wird alles nur noch unter Kolonialismus abgehandelt. Das ist eine gute Diskussion. Das ist ganz wichtig für Großbritannien zum Beispiel, die den Brexit lieber begangen haben, als sich darüber zu unterhalten, was sie eigentlich in Indien für ein Gemetzel ausgelöst haben. Das ist eine gute Diskussion für die.
Das ist auch in Amerika ungemein wichtig. Und eine Sache, die eben für den Konflikt zwischen den Palästinensern und den Israelis wichtig ist, ist nicht, dass alle Palästinenser, die 1948 bei der Staatsgründung Israels und diesem Krieg, den die Israelis nicht wollten und der aber ausgebrochen ist, weil die Palästinenser nicht die Hälfte des Landes hergeben wollten, dass nicht alle diese Palästinenser zurückkehren müssen, weil dort ja jetzt die Israelis sind, sondern dass sie die Gerechtigkeit brauchen, die Anerkennung, dass ihnen eine Katastrophe zugeführt wurde, die eine palästinensische Frau 1948 in Jaffa im Süden von Tel Aviv, das war nicht ihre Schuld, dass sie ihr Haus verloren hat, sondern das war ein Krieg, der ausbrach aufgrund von politischen Entscheidungen.
Und diese Leute sind bis heute irgendwo auf der Welt verstreut und haben nie das Recht zugesprochen bekommen zu sagen, uns ist Unrecht geschehen. Und wie sollen wir darüber reden, was wir da jetzt machen können?
Und das heißt also nicht, dass alle diese Palästinenser wieder zurück müssen nach Israel, die sind ja längst woanders, auch zu Hause, sondern es heißt, dass sie darüber reden müssen, dass ihnen ein Angebot gemacht werden muss, wo sie eben sozusagen in ihrem Selbstbestimmungsrecht einen eigenen Staat haben können.
Und das war halt für lange Zeit die Idee, dass man das als Zweistaatenlösung schafft, innerhalb dieses kleinen Landes, was eh schon schwierig genug war. Und das wird man eben jetzt hoffentlich, wenn dieser Krieg vorbei ist, neu beginnen, diese Diskussion.
Andreas: Reden wir gleich noch darüber, was für Lösungen es da geben könnte. Aber noch bei diesem Beispiel zu bleiben, wie können Menschen so was machen wie am 7. Oktober oder wie können Menschen jetzt in Israel der Meinung sein, die haben uns angegriffen, jetzt löschen wir sie aus. Oder jetzt machen wir die platt, das Volk, das wollen wir nicht mehr da haben.
Also diese historische Ungerechtigkeit und diese Kränkung und Würdelosigkeit und dieses “Ich will mich da jetzt wehren”, das ist ja dann irgendwie auch der nächste Schritt, dass dann gegen die, gegen die ich mich wehre, das wird dann irgendwie eine anonyme Masse.
Und ich denke dann nicht dran, die Frau, die da jetzt auf dem Festival ist, dass die damit vielleicht, als war das Absurde auch an der Situation, dass da sehr viele Leute waren, die auch in Solidarität mit den Palästinensern gestanden sind, aber ich denke da nicht dran, dass das jetzt irgendwie der Tochter von jemandem ist oder die Freundin, sondern das ist irgendwie einfach irgendwie ein Teil, quasi wie beim Fußballverein, das sind die Austrianer, wir sind die Rapidler.
Schon bei den Austrianern und den Rapidlern hat man manchmal das Gefühl, es findet eine gewisse Entmenschlichung statt und auch eine Enthemmung und auch eine Grenzüberschreitung, kann man auch lang darüber diskutieren.
Grundsätzlich haben wir halt immer gefunden, super, dass es Fußball gibt, da können sich alle ihre nationalistischen oder auch patriotischen oder was auch immer Gefühle aus dem Leib schreien, ohne dass wirklich was passiert. Manchmal passiert leider trotzdem was, aber gut. Es können natürlich auch Worte verletzen, im Übrigen, also es ist jetzt auch nicht ganz unproblematisch.
Aber der Fußball ist die zivilisierte Form des Nationalismus. Wenn aber ein Nationalismus nicht solche zivilisatorischen Strukturen bekommt, um sich entfalten zu können, ohne dass es blutig wird, dann ist eben die Gefahr auch höher.
Jetzt wie ein Mensch, ein junger Mann aus Gaza in einen Kibbutz einfällt und dort Kinder quält, es ist mir nicht erklärlich. Ich glaube, dass die Entmenschlichung so viel schneller geht.
Und again, das wissen wir auch aus unserer eigenen Geschichte, dass Wehrmachtssoldaten, wehrlose Zivilistinnen, ob das jetzt Polen waren oder jüdische oder nichtjüdische Polinnen und Polen, Kinder in Gruben geschossen haben. Ich meine, das können wir nicht erklären.
Wir können das nur erklären, dass die durch Militärstruktur, durch gesellschaftliche Erziehung, durch allgemeine Verblödung, durch keine große Bildung, aber es waren die Hochgebildeten. Mein Großvater hat keine Menschen erschossen, eigenhändig, aber war Bürokrat in einer Struktur, die darauf aufgebaut war, den Deutschen das Recht zu geben, dort in Danzig zu herrschen und nicht die Polen. War noch nicht einmal unbedingt antisemitisch, sondern einfach das Herrschaftsdenken zu glauben, dass eine Gruppe von Menschen besser ist als die andere.
Das ist schon mal das erste Problem. Wie schnell das geht, diese Entmenschlichung, das ist furchtbar erschreckend. Deswegen ist es ja auch, das wurde die Demokratie, haben wir nicht erschaffen und uns Regeln gegeben, weil das so lustig ist, sondern weil wir ein bisschen Angst vor der “Bestie Mensch” haben.
Dass wir nicht sicher sein können, dass wir, wenn wir nicht Gesetze machen gegen Mörder, dass die Leute einfach so zum Spaß nicht mehr morden, haben wir eben nicht angenommen. Das ist so. Das ist auch, je ungerechter eine Gesellschaft ist, umso schwieriger ist es, die Gewalt zu kontrollieren.
Andreas: Zum Ende reden wir noch über ganz was Einfaches, nämlich wie es weitergehen könnte. Ich hatte kurz einmal so wahrscheinlich die sehr naive Hoffnung, dieser extrem radikale Schritt des 7. Oktober, dass der irgendwie in seiner ganzen Schrecklichkeit und Grausamkeit den Beteiligten vor Augen führt, es kann nicht mehr so weitergehen.
Und es ist ja oft so, dass irgendwas total, irgendwas muss gegen die Wand fahren, damit man auch im persönlichen Leben merkt, okay, zum dritten Mal, jetzt müssen wir was anderes machen. Wenn ich mir jetzt anschaue, die Debatten habe ich irgendwie nicht, also das ist ja bei Menschen auch so, manche Leute fahren zehnmal gegen die Wand und hören und machen sich bereit fürs elfte Mal.
Hast du Hoffnung oder hast du das Gefühl, das kann jetzt auch so ein Punkt sein, wo man irgendwann vielleicht doch sich auch wieder vernünftigere Kräfte durchsetzen?
Tessa: Also ich glaube, eine Hoffnung von vielen oder auch von mir ist ja, dass wenn ein Waffenstillstand oder Frieden herrscht, dass dann auch in Israel zu einer politischen Veränderung kommt, wenn Netanyahu ja jetzt schon nicht mehr so wahnsinnig beliebt ist.
Es hilft immer in so einer Situation, sich ein bisschen anzuschauen, was woanders passiert ist. Also im Winter 1944 hätte man nicht gedacht, dass Deutschland eine der stärksten, wichtigsten liberalen Demokratien der Welt sein würde, 80 Jahre später.
Als in Südafrika die Apartheid abgeschafft wurde, hatte die weiße, herrschende Schicht Angst, dass sie massakriert wird von den demokratisch gewählten schwarzen Regierungen. Das ist nicht passiert. Die leben eigentlich, also das ist jetzt nicht alles so super in Südafrika, immer noch sehr korrupt und dings und alles. Aber es geht eigentlich.
Nordirland, hätte kein Mensch gedacht in den 70ern, dass jemals wieder sich die Leute Hände schütteln dort. Die katholischen Iren und die protestantischen Briten haben sich die Hand geschüttelt. Es herrscht dort relativer Frieden.
Deswegen glaube ich, wenn wir uns überlegen, wie das mit Israelis und Palästinensern weitergeht, ich weiß das natürlich überhaupt nicht. Ich bin auch nicht super optimistisch oder irgendwas. Aber die Idee, dass man auf politische Prozesse setzt, wo den Leuten gesagt wird, es ist wichtig, dass ihr alle sicher sein könnt und es ist wichtig, dass ihr alle bürgerliche Rechte bekommt, da würde ja ein großer Teil beider Völker mal unterschreiben.
Das heißt, man braucht im Grunde genommen einen der vielen Pläne, die da schon jetzt entwickelt wurden in den letzten Jahrzehnten, die man sozusagen darauf auch abklopfen muss, was da geht.
Aus der inneren Situation heraus, glaube ich, wird es sehr schwer, eine israelische Regierung zu bekommen, die für große territoriale Kompromisse dastehen wird. Weil auch innerhalb der sogenannten Linken in Israel, ich habe da einen Hoffnungsträger interviewt für den Falter, Yair Golan, der sagt jetzt auch nicht mehr Zwei-Staaten-Lösung, weil das jetzt nicht mehr so opportun ist in Israel, das zu sagen nach dem 7. Oktober. Aber er sagt, wir brauchen einen Ausgleich.
So, bei den Palästinensern, mit denen, die ich in Ramallah auch getroffen habe, die dann sagen, wir wollen auf keinen Fall irgendwie noch mal so einen lügenhaften Ausgleich wie die Oslo-Verträge, die uns nur mehr Siedler gebracht haben. Wir brauchen einen wirklich großen politischen Entwurf, wo unsere Bürgerrechte, unser Staat mit allem Drum und Dran garantiert wird.
Also es wird schwer sein, da gleich mal politische Führungen in beiden Ländern zu bekommen, die für einen vernünftigen, schmerzhaften Kompromiss eintreten. Aber da könnten natürlich europäische Regierungen, vor allen Dingen die amerikanische Administration, dazu beitragen, dass die Leute an den Tisch geholt werden.
Ich glaube, man kann einfach die Hoffnung auch nicht aufgeben. Und es gibt ja eben auch wie gesagt viele Beispiele dafür, dass aus den ärgsten Umständen durchaus auch Wege gefunden werden, die zu relativem Frieden und Demokratie führen können.
Andreas: Finde ich toll. Es gibt sehr viele Geschichtsfolgen in “Erklär mir die Welt”. Also dass die Geschichte nicht nur herzunehmen als schlimme Dinge, die mir passieren. Oder um jetzt besser zu verstehen, was gerade passiert, sondern auch um Hoffnung, ein bisschen an Funken Hoffnung, sich zu behalten. Und das hat mir jetzt auch die tolle Idee gebracht, ich mache jetzt eine Reihe in “Erklär mir die Welt”, wo ich mir die gelungenen Friedenslösungen von großen Konflikten anschauen werde. Also danke dafür.
Du hast uns am Ende, liebe Tessa, auch noch Buchempfehlungen mitgebracht.
Tessa: Ja, ich meine, es gibt irrsinnig viele. Ja, Nahost-Erklär-Bücher kann man viele empfehlen. Ich habe jetzt gerade die jüngsten, also über Khalidi, da haben wir schon gesprochen. Genau hier, Tom Segev, “Niemals Frieden” habe ich gerade im Falter besprochen.
Es ist ein kleines Büchlein, wo er nochmal erklärt, wie es zum 7. Oktober gekommen ist und was man damit machen soll. Tom Segev ist ein israelischer Historiker. Er hat aber deutsche Eltern und hat dieses Buch auch auf Deutsch geschrieben. Also es ist keine Übersetzung. Kann ich sehr empfehlen, weil er sehr klar nochmal darüber spricht, wie man diese Zweistaatenlösung definieren könnte für 2024 und für die Zeit nach dem Krieg. Also das ist auch nicht wahnsinnig schwierig und langwierig, das zu lesen. Kann man machen.
Und ich finde aber auch wichtig, dass man sich die Literatur auch zur Beruhigung der Nerven dazwischen sich in die Literatur einlässt. Das habe ich jetzt gelernt von meiner Tochter Emma, die immer, wenn sie mit Leuten, irgendwie mit ihrem Freund ihren Tag verbringt, am Wochenende, dass sie dann sagt, komm, jetzt setzen wir uns auf die Parkbank und lesen mal eine Stunde einen Roman. Und das machen sie dann.
Und das habe ich am Sonntag gemacht, als ich gerade ein bisschen Zeit hatte. Dann habe ich gesagt, ich setze mich in den Garten und lese einen Roman und habe einen aus dem Regal gefischt, der mir schon beim ersten Lesen sehr gut gefallen hat. Das ist eben Amos Oz, “Judas”.
Und das ist ein Roman, der sehr gut erklärt auch die Anfänge des Zionismus und was daraus geworden ist, was jetzt eben auch ganz aktuell ist. Und dann habe ich es aufgemacht und habe gesehen, dass ich das Buch geschenkt bekommen habe von meinem alten Freund Ari Rath im Dezember 2015. Und mit dem mich eine tiefe Freundschaft verbunden hat. Und der halt auch als Wiener losgezogen ist, losziehen musste, rausgeschmissen wurde von den Nazis. Und in Jerusalem Chefredakteur der Jerusalem Post wurde später. Und das verbindet uns alle.
Und ich glaube, das ist auch ein Grund, warum uns dieser Konflikt so berührt. Und uns dazu bringt, so energisch darüber zu diskutieren. Und das Buch kann ich auch empfehlen.
Aber es gibt sehr, sehr viele Nahost-Bücher. Also wer noch mehr wissen will, dem schreiben wir das nochmal.
Ah ja, und hier, Ari Shavit ist auch interessant. Mir ist aufgefallen, das ist schon 2014 rausgekommen. Ich weiß nicht genau, wann es auf Deutsch übersetzt wurde, aber auch schon vor ein paar Jahren. Und er ist ein Haaretz-Journalist. Das Buch heißt “Mein gelobtes Land, Triumph und Tragödie Israels”.
Und ich merke, dass sehr viele Leute sich in Ari Shavits Erklärung des Konflikts, dass das sehr hilfreich ist für viele Leute. Und deswegen hab ich gedacht, ich empfehle das jetzt einfach mal mit.
Es ist nicht mein eigenes Lieblingsbuch, muss ich sagen, aus anderen Gründen. Aber ich hab deinen Pendanten in Amerika, Ezra Klein von der New York Times. Der hat diesen wirklich auch super Podcast, den ich oft höre, und der hat Ari Shavit jetzt gerade dort gehabt. Als Gast kann man auch vielleicht als Hörempfehlung gleich mit hineinnehmen, wo der das auch nochmal erklärt, wie diese, auch angefangen von der Vertreibung der Palästinenser 1948, was das für die israelische Gesellschaft auch bedeutet hat, als Legacy, auch als Erbe, dass man mit sich schleppt, ohne dass es bisher gelöst werden konnte. Ist auch ein sehr gescheites Buch.
Andreas: Letzte Frage. Ich hab vorhin gerade mit einer Freundin gesprochen, die ganz verzweifelt war über die Berichterstattung vieler Medien, der das total fehlt, dass da differenziert berichtet wird. Es ist klar, Falter kann man lesen, wo man deine Texte sieht. Was sind sonst Medien, die du gerne liest, um dich zu informieren, wo du immer wieder positiv überrascht wirst über sehr differenzierte Texte zu einem Thema?
Tessa: Naja, es ist wirklich nicht ganz einfach, das auch für den deutschsprachigen Raum zu definieren. Darf auch Englisch sein.
Und dann kommt noch dazu, dass vieles auch Geld kostet. Also das ist auch immer so, naja, man empfiehlt dann so, lest halt Haaretz zum Beispiel. Das ist eine der Zeitungen, wo ich mir ein Abonnement leiste und das natürlich auch nicht umsonst ist. Also für Studierende vielleicht ist es auch noch leichter und billiger.
Aber Haaretz finde ich gut als Plattform für eine pluralistische Sichtweise auf Israel. Die haben auch sich bemüht, Gaza nicht völlig unter den Tisch fallen zu lassen. Es gibt auch eine Netzzeitung plus 972, was auch sehr sinnvoll ist, glaube ich, wenn man sich da informieren will.
Ich finde einfach auch immer noch sehr, sehr gut den Guardian, weil da kann man sich überlegen, was ich für sehr wichtig halte, das mache ich auch, da habe ich einfach auch ein Abo abgeschlossen, obwohl man es umsonst lesen könnte. Aber ich finde das wichtig, dass wir unabhängigen Journalismus auch unterstützen. Und man kann aber dann, wenn man es sich gerade nicht leisten kann, auch den einen oder anderen Guardian-Artikel einfach auch mal so lesen.
Und die haben einfach auch ein gut aufgestelltes Netzwerk an Korrespondenten und auch sehr viele Longreads und Texte, die man lesen kann. Es gibt natürlich auch die anderen, also es gibt in Großbritannien und in Amerika die üblichen Sachen. Es gibt einfach sehr gute Texte in der New York Times, es gibt sehr gute Texte im Forward oder im Atlantic. Es sind alle möglichen Zeitungen, die hilfreich sind.
Aber man soll auch die deutschsprachigen nicht unter den Tisch kehren. Also über den Falter haben wir natürlich schon gesprochen. Aber es gibt genug Material gerade zum Nahen Osten. Wenn man es wissen will, kann man das auch suchen und finden.
Und “Erklär mir die Welt” kann man übrigens auch supporten unter erklaermir.at/support. Und wenn man es sich nicht leisten kann, dann darf man alles auf Spotify, YouTube und Co gratis schauen.
Andreas: Was nehme ich mir mit? Erstens, die offizielle Position Österreichs ist kritisch zu sehen. Es ist wichtig und richtig, dass sich Österreich für Israel einsetzt. Es braucht aber auch Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung und einen Einsatz für eine politische Lösung. Sonst geht dieser Konflikt ewig weiter. Sich kritiklos hinter die israelische Regierung zu stellen ist falsch.
Zweitens, der Konflikt emotionalisiert extrem. Beide Seiten radikalisieren sich. Palästinenser werden in Israel entmenschlicht und Israelis werden in Palästina entmenschlicht und der Kreislauf dreht sich nach unten weiter. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass sich beide Seiten wieder auf einer Ebene begegnen können, auf der Basis der Menschenrechte und der Menschenwürde.
Drittens, auch wenn eine politische Lösung heute undenkbar scheint, es sind schon viele undenkbare Dinge in der Geschichte passiert. Deutschland wurde vom Nazi-Aggressor-Staat zu einem Vorbild für die liberale Demokratie auf der Welt. Der Konflikt mit der Terrorgruppe IRA in Irland wurde beigelegt und in Südafrika hat man die Apartheid überwunden.
Danke euch fürs Zuhören. Am Ende noch ein großes Dank an alle, die mitarbeiten bei “Erklär mir die Welt”. Sidonie Sagmeister macht Kamera- und Videoschnitt. Alexander Komann von DoMotion. Den Audio-Schnitt erledigt Dominik Lantinger von Audiofumble. Um Vermarktung kümmern sich Therese Iliasch und Stefan Lasnik von Missing Link.
Danke an alle Unternehmen, die im Podcast Werbung schalten. Kleinere Werbebuchungen für 1000 bis 2500 Euro könnt ihr direkt auf erklaermir.at/werbung buchen. Ansonsten bitte einfach bei Therese und Stefan von Missing Link melden.
Danke an alle Unterstützerinnen, die den Podcast mit ihren finanziellen Beiträgen mitmöglich machen. Helft mit, “Erklär mir die Welt” zu finanzieren, auf erklaermir.at/support.
Nächste Woche kommt ein Deep Dive mit dem Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik. Es geht um Mythen über die österreichische Politik, rechtzeitig zum Superwahljahr, und es dauert zwei Stunden, also haltet euch schon mal ein kleines Zeitfenster dafür frei.
Bis dahin, eine gute Zeit, euer Andreas.