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Schreiben im Schutzbunker

Schreiben im Schutzbunker

https://www.falter.at/zeitung/20240109/schreiben-im-schutzbunker

Der Redaktion der linksliberalen Tageszeitung Haaretz geht es wie dem ganzen Land, in dem sie erscheint: Sie ist im Krieg. Aber sie will nicht Teil der israelischen Kriegsmaschine sein

TESSA SZYSZKOWITZ

MEDIEN, FALTER 1-2/2024 VOM 09.01.2024

Es war sechs Uhr früh am 7. Oktober, als Haaretz-Journalist Amir Tibon von seiner Frau Miri geweckt wurde. Sie hatte das Zischen einer Mörsergranate gehört. Die jungen Eltern kannten den Drill von früheren Hamas-Attacken: Sie schlichen in das Kinderzimmer ihrer beiden Töchter, der einjährigen Carmel und der dreijährigen Galia. Wie in den meisten Dörfern im Grenzgebiet diente auch ihr Kinderzimmer im Kibbuz Nahal Oz als Schutzraum. Sie schlossen sich ein. Doch diesmal kam keine Entwarnung. Der Kampflärm kam näher. Sie hörten Maschinengewehrfeuer vor ihrem Haus.

Tibon tippte Nachrichten in sein Mobiltelefon. Eine an die Militärkorrespondenten seiner Zeitung, Amos Harel und Yaniv Kubovich. Sie schrieben sofort zurück: Der Anschlag war nicht allein gegen Nahal Oz gerichtet, es schien sich um einen großangelegten Angriff der Hamas zu handeln. Den anderen Text schickte er seinem Vater Noam in Tel Aviv. Der hielt sich kurz: „Wir kommen.“ Der 62-jährige pensionierte General schnappte sich seine Pistole und fuhr mit Amirs Mutter an seiner Seite im Privatauto in den Süden. Sie wollten ihren Sohn und seine Familie retten.

Drei Monate sind seither vergangen. Der Haaretz-Journalist und seine Familie haben das Massaker der Hamas überlebt. Im Gegensatz zu mindestens zwölf Kibbuz-Mitgliedern und 60 Soldaten aus dem Militärstützpunkt Nahal Oz. Wie kann man nach so einem Erlebnis weiterarbeiten? Wie geht Journalismus mitten im Krieg?

Nicht nur Amir Tibon ist Teil dieses Krieges. Seine Zeitung Haaretz, das linksliberale Aushängeschild des Qualitätsjournalismus in Israel, ist es auch. Haaretz heißt „Das Land“. Wenn die Alarmsirenen heulen und die Hamas Raketen auf Tel Aviv schießt, gehen die Journalisten in den Schutzbunker. Einige Reporter waren in den vergangenen drei Monaten eingezogen, einige aus der Belegschaft als Reservisten, sie sind inzwischen zurück und sitzen wieder an ihren Computern. Fast jeder in der Redaktion kennt jemanden, der oder die am 7. Oktober ermordet wurde.

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© 2018 Tessa Szyszkowitz