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„Warum können wir nicht mehr diskutieren, ohne zu streiten, Frau Menasse?“

Warum können wir nicht mehr diskutieren, ohne zu streiten, Frau Menasse?

https://www.falter.at/zeitung/20231114/warum-koennen-wir-nicht-mehr-diskutieren-ohne-streiten

Die streitbare Intellektuelle Eva Menasse spricht im Falter-Interview über digitale Wirtshausschlägereien, das Virus des Irrationalismus und die kulturelle Hysterie Deutschlands gegenüber Israel 

TESSA SZYSZKOWITZ MEDIEN, FALTER 46/2023 VOM 14.11.2023 


Als sie 2021 die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ neben der israelischen Soziologin Eva Illouz und dem deutschen Publizisten Micha Brumlik unterzeichnete, forderte Eva Menasse darin gemeinsam mit 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine zeitgemäße Definition des Antisemitismus: Es sei Diskriminierung, alle Juden kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen. Die in Berlin lebende österreichische Autorin spricht sich außerdem für eine differenzierte, solidarische Nahostdebatte hinsichtlich israelischer und palästinensischer Opfer aus. 

Eva Menasse ist Wienerin, die seit 20 Jahren in Berlin lebt. Die Autorin begann ihre journalistische Karriere bei Profil, wechselte dann zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2005 erschien ihr Debütroman „Vienna“. Sie ist längst Bestsellerautorin – ihr Roman „Dunkelblum“ (2022) wurde 130.000-mal verkauft und in neun Sprachen übersetzt. Sie ist eine der wichtigsten Public Intellectuals des deutschsprachigen Raums. Ihr jüngster Essay „Alles und nichts sagen“ erschien am 4. November bei Kiepenheuer & Witsch



Falter: Frau Menasse, der Nahostkrieg, der mit dem Massaker der Hamas an Israelis am 7. Oktober begann, hat einen neuen digitalen Tornado an Positionierung und Polarisierung ausgelöst. Können wir alle nicht mehr diskutieren, ohne uns zu streiten?

Eva Menasse: Die Debatte um Nahost ist ein gutes Beispiel für unsere Überflutung mit Informationen, Desinformationen, Handlungsanweisungen und Erwartungen – dem täglichen Druck, die Welt verändern zu müssen. Das ist psychisch schwer auszuhalten. Es kursieren offene Briefe, jeden Tag drei Stück, ist mein Gefühl, wo Dutzende berühmte Menschen unterschreiben. Es ist aber eine Illusion, zu glauben, mit offenen Briefen hätte man schon etwas gemacht.

Im Essay „Alles und nichts sagen“ heißt es: „Die Weltformel der globalen Gesellschaft wird gebildet aus den heißen Drähten, an denen sie unentrinnbar hängt.“ Sind wir Geiseln unserer Smartphones?

Menasse: Die digitale Kommunikation findet in ungeheurer Geschwindigkeit statt. Man muss auch so schnell reagieren. Das nimmt uns die Zeit, über eine Antwort nachzudenken. Die Anonymität führt dazu, dass sich Menschen ganz anders benehmen. Nämlich viel schlechter. Wenn man zum Beispiel verfolgt, was honorige Feuilletonisten konservativer deutscher Tageszeitungen, also das Ehrwürdigste vom Ehrwürdigen der deutschen Publizistik, auf Twitter so treiben – das ist wie eine verbale Wirtshausschlägerei. Die beschimpfen einander so unflätig, wie sie das niemals schriftlich in ihrer Zeitung tun würden. Da schreibt einer einen FAZ-Leitartikel – um dann dazwischen, wenn er aufsteht und das Fenster öffnet, schnell auf Twitter abzurotzen. Da gehört eine gewisse kognitive Dissonanz dazu. Dadurch ist eine Aufgeregtheit und Aggressivität in die Kommunikation gekommen, die auch auf alle analogen politischen und intellektuellen Debatten übergegriffen hat.

Auf X – dem ehemaligen Twitter – denke ich mir oft: Jetzt legt doch einfach einmal eure Telefone beiseite. Können wir das nicht mehr?

Menasse: Wie das funktioniert, welche Gehirnareale bei uns Menschen angeregt werden – Dopamin-Ausschüttung, Suchtverhalten –, das ist alles längst untersucht. Die sozialen Medien sind so konzipiert, dass sie uns fesseln. Sie sind eben weit mehr als ein Werkzeug. Sie sind eine Droge, die dauernd etwas von uns will. Diesen allgemeinen Veränderungen kann niemand entkommen, sie ziehen auch jene mit rein, die wie ich noch nie ein Facebook- oder Twitter-Konto hatten. Ich glaube zwar, dass mir das einen Teil Gelassenheit bringt, aber auch meine Welt hat sich verändert. Ich schaue auf die Gegenwart des digitalen Zeitalters und es kommt mir alles so wie zu heiß gewaschen vor, wie verfilzt. Zu denken, zu schreiben, zu analysieren bedeutet, es wieder auseinanderzuziehen, zu entfalten, die Fäden wieder sichtbar zu machen.

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© 2018 Tessa Szyszkowitz