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„Die russische Gesellschaft hat sich schuldig gemacht“



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Andrej Kurkow zählt zu den bekanntesten russischstämmigen Schriftstellern der Gegenwart. Über einen Ukrainer, der außer der Sprache nichts mehr Russisches in sich findet TESSA SZYSZKOWITZ POLITIK, FALTER 44/22 VOM 02.11.2022
Der Schriftsteller im Krieg, das ist keine neue Figur in der Geschichte Europas. Der jüdische Autor Wassili Grossman zum Beispiel, in der Ukraine geboren, wurde im Zweiten Weltkrieg Kriegsreporter für die sowjetische Armee. Sein Hauptwerk "Leben und Schicksal" schrieb er 1959, aber das kommunistische Regime verhinderte die Veröffentlichung über Jahrzehnte. Der Roman erschien erst 1980 in Moskau. 
Es gibt unzählige Beispiele für Intellektuelle, die sich in Kriegswirren als Chronisten des Grauens wiederfinden. Manche schreiben, manche verstummen. Aber für alle ist Krieg - wie für alle Zivilisten - vor allem eines: ein großer Riss, der das Leben in ein Davor und Danach teilt. 
Im Oktober hat nun der in Kiew lebende Schriftsteller Andrej Kurkow sein aktuelles "Tagebuch einer Invasion" vorgelegt. Er erzählt darin vom Versuch einer Nation, der Ukraine, sich vor dem Griff des autoritären Nachbarn, Russlands, zu retten. 
„Ich habe gar keine Zeit über mich selbst nachzudenken“, sagt Andrej Kurkow, „das geht ja nicht, wenn das ganze Land bedroht ist.“ Der 61-jährige ukrainische Schriftsteller ist derzeit auf Lesereise durch deutsche Städte. „Ich tue, was ich kann, um einer europäischen Öffentlichkeit zu erklären, was die Ukraine ist.“ 
Das tat er bereits vor dem Krieg, der am 24. Februar begann, als der russische Präsident Wladimir Putin zum ersten Mal ganz offiziell seine Armee ins Nachbarland schickte. Schon 2014, als Putin sich die Halbinsel Krim einverleibte, hatte Kurkow ein Tagebuch geführt. Im Oktober legte der Autor sein aktuelles „Tagebuch einer Invasion“ vor. Er erzählt darin vom Versuch einer Nation, sich aus dem Würgegriff des autoritären Nachbarn zu befreien. Diese „eindringliche Chronik und kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe“ bewog die Jury des Geschwister-Scholl-Preises dazu, ihm die diesjährige Ehrung zukommen zu lassen. 
Das „Tagebuch einer Invasion“ beginnt vor dem russischen Überfall auf die Ukraine mit der Neujahrsansprache von Wolodymir Selenskyj, in der der ukrainische Präsident sagt: „Wir warten nicht darauf, dass die Welt unsere Probleme löst.“ Kurkow bemerkt sarkastisch: „Ich persönlich warte aber darauf und rechne sogar damit.“ Diese Rechnung ging nicht auf. Am 24. Februar greifen die Russen die Ukraine an. „Man muss sich psychisch an die Vorstellung gewöhnen, dass der Krieg begonnen hat“, schreibt der Autor Die Kurkows fiehen vor den Bombeneinschlägen nach Westen. „In dieser neuen Epoche erleben wir nun, wie sich die Geschichte wiederholt“, notiert der 61-Jährige. 
Im Zweiten Weltkrieg wurden die Männer eingezogen, Kurkows Großvater fiel bei Charkiw. Die Frauen und Kinder flüchteten 1941 vor den Nazis in den Osten in den Ural. Wo sie einquartiert wurden, wollte man sie nicht. Sie verhungerten fast. Doch 2022 ist anders als 1941. Die nach Westen geflüchteten Ukrainer fanden offene Türen. Die Ukraine ist als eigenständige Nation auch nicht mehr bereit, sich als Spielball der Mächte missbrauchen zu lassen und vor der Macht Russlands einzuknicken. Wolodymir Selenskyjs Worte zu Jahresbeginn waren fast prophetisch. Seine Soldaten halten der russischen Armee stand. 
„Selenskyj war anfangs ein Präsident, der mit Putin ein Auskommen finden wollte“, kritisiert Kurkow. „Doch der Druck der Straße hat auch ihn verändert.“ Über die Jahre ist die ukrainische Bevölkerung immer unabhängiger von Russland geworden. Sie hat ein eigenständiges Staatsgefühl entwickelt und nach Westen gewandt. In Moskau wird Selenskyj deshalb heute absurderweise als jüdischer Faschist bezeichnet. Für sein Volk aber heißt das, dass Selenskyj „in Harmonie mit der Nation“ lebt, denn: „Die Menschen in der Ukraine glauben Putin nicht mehr.“ 
Wenn er nicht als Kriegschronist auftritt, schreibt Andrej Kurkow Kriminalromane. Zumindest behauptet er das. Für einen Krimiautor ist er nämlich sehr politisch. Und poetisch. Das beste Beispiel für diese besondere Stilmischung ist sein erster Hit „Picknick auf dem Eis“, der seit 2003 die deutschsprachige Leserschaft mit Einblicken in die ukrainische Gesellschaft gut unterhalten hat....

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© 2018 Tessa Szyszkowitz