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Winter of Discontent

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DAS BREXIT-CORONA-JAHR GEHT ZU ENDE-Winter der Unzufriedenheit

Großbritannien hätte 2020 mit dem Brexit schon alle Hände voll zu tun gehabt. Doch dann kam auch noch Corona über die Insel. Unsere London-Korrespondentin Tessa Szyszkowitz blickt zurück auf ihr Jahr auf der Insel.

Das Jahr begann mit dem Brexit und nun endet es auch so. Gerade bevor wir die Sektkorken zu Weihnachten 2020 knallen lassen, kann Boris Johnson in Downing Street 10 den endgütigen Austritt aus der EU doch noch mit gütlichem Ausgang feiern: „Wir haben einen Deal!“, sagte der 56-jährige Premierminister. Damit kann das Vereinigte Königreich am 31. Dezember den EU-Binnenmarkt mit einem Handelsabkommen verlassen.

Der 2000 Seiten dicke Vertrag ist allerdings vom Inhalt her eher dünn: Er umfasst nur den Güterhandel und einige andere Themen. Wichtige Brocken wie den Zugang britischer Finanzdienstleistungen zum EU-Binnenmarkt werden erst in den kommenden Jahren ausgehandelt werden. „Wir werden ein unabhängiger Küstenstaat mit voller Kontrolle über unsere Fischbestände“, sagte Boris Johnson in London. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ließ es sich in Brüssel nicht nehmen, in einem kleinen Seitenhieb darauf hinzuweisen, dass die Fischquoten in den britischen Gewässern erst nach einer Übergangsphase von 5,5 Jahre verändert werden.

 

So klingt dieses schwierige Jahr am 24. Dezember doch noch mit einem Hauch von Hoffnung aus. Das schlimmste und unverantwortlichste Szenario, das Johnson seiner Insel antun hätte können, vermied er am Ende doch noch. Doch das vergangene Jahr hat alle Beteiligten – EU-Politiker, britische Verhandler und uns Journalisten auf beiden Seiten einige Nerven gekostet. Vor allem, weil niemand zu Beginn des Jahres 2020 wissen konnte, dass der Brexit für uns alle nur das zweitrangige Problem dieses Jahres werden würde.

 

Ich wollte nicht mitfeiern

So hatte ich mich Tag des EU-Austritts von der Brexitinsel verdrückt. Ich wollte den Tag der nationalen Narrheit nicht mitfeiern. Am 31. Januar 2020 moderierte ich mittags in Wien eine Podiumsdiskussion mit EU-Botschafter Martin Selmayr, sprang dann ins Flugzeug nach Berlin und ging bei Phoenix in eine Fernsehdiskussion. Wir saßen nachts im Studio und sahen Livebilder vom Parlamentspatz in London: Dort tanzten die Brexitfans mit britischen Union-Jack-Flaggen. Eine EU-Fahne wurde angezündet.

Nigel Farage, der seit 15 Jahren für den Brexit gekämpft hatte, rief beglückt ins Mikrofon: „Unsere Freunde am Kontinent werden uns folgen.“ Mein Herz schmerzte, mein Kopf noch viel mehr. Es sah nach vier Jahren Brexitchaos gar nicht danach aus, als ob die anderen EU-Staaten meiner Wahlheimat Britannien folgen wollten. Was hatten die Brexiteers nicht alles prophezeit: Wohlstand für die unabhängige Nation, die Fesseln der EU abgeworfen. Der EU-Beitrag von 355 Millionen Pfund pro Woche war zwar nie auch nur halb so groß, aber wen kümmert schon die Wahrheit im Rausch?

Ein guter Start für Boris

Beklommen landete ich am 1. Februar 2020 in Heathrow und als ich bei Freunden in Islington zum Abendessen eintraf, setzten wir wie Boris Johnson darauf, dass die langwierigen und langweiligen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen die Leute auf der Insel und auf dem Kontinent in den kommenden Monaten und Jahren nur noch bedingt interessieren würden. Wir Korrespondenten wollten uns endlich anderen Themen widmen.

Einen Moment lang waren wir geneigt, Boris Johnson zu glauben, als er in seiner Rede an die Nation sagte: „Das ist der Moment, wenn der Tag hereinbricht und sich der Vorhang hebt für den nächsten Akt in unserem großen Nationaldrama.“ Man kann dem pointenlustigen Tory-Politiker seinen Zukunftsglauben zu diesem Zeitpunkt nicht verübeln. Das Jahr 2020 ließ sich gut an. „Brexit? Done!“, muss er sich gedacht haben. Er regierte mit einer bequemen Mehrheit von konservativen Politikern. Sein Kabinett war prall gefüllt mit Ministern, die ihren Job zwei durchaus verwandten Eigenschaften verdankten: Boris-Loyalität und Brexittreue.

Rugbymatch zum Corona-Beginn

Und dann kam der Tod auf leisen Sohlen auf die britische Insel geschlichen. Anfangs begriff der Premierminister nicht, dass dies kein Versehen war. Das Coronavirus war zuerst in China aufgetreten, dann machte es sich in Italien breit. Im März gingen die Spitäler in Norditalien über. Boris Johnson aber schwänzte erstmal fünf Sitzungen des nationalen Krisenausschusses Cobra.

Der leutselige Mann ging am 7. März mit seiner schwangeren Freundin zu einem Rugbymatch mit 70.000 Zuschauern. Seine Schwester Rachel kam am 11. März zu mir zum Abendessen und erzählte, wie heiter sie zusammen auf der Tribüne gesessen hatten. Vater Stanley war natürlich auch dabei, der 80-jährige It-Boy britischer Dating-Shows ließ keine Vorsicht walten, im Gegenteil. Er richtete seinem Sohn über die Medien aus, falls der daran denke, das soziale Leben in England einzuschränken, werde er es sich nicht nehmen lassen, ins nächste Pub auf ein Pint zu gehen.

Die Briten hätten mitgemacht

So nahm die Covidkatastrophe im Frühling ihren Lauf. Erst am 21. März verkündete Boris Johnson endlich einen Lockdown. Der erste, der in meinem Umfeld erkrankte, war der Rabbi, der neben uns wohnt. Tagelang sah ich weder ihn noch seine schwangere Frau. Selbst die Kinder waren durch die Wand nicht mehr zu hören. Wir gründeten eine Whatsapp-Gruppe in der Straße. Innerhalb der ersten Wochen wurden sechs Familien mit Covid-19 infiziert. Die offiziellen Zahlen stimmten mit meinen persönlichen Beobachtungen nicht überein. Es wurde einfach zu wenig getestet.

Als ich den Rabbiner endlich wieder in seinem Hauseingang stehen sah, musste ich mich beherrschen, ihn nicht zu umarmen. Er ist ultraorthodox, also ist das sowieso nicht angebracht, aber damals waren wir außerdem noch nicht daran gewöhnt, dass mindestens ein Meter Abstand unsere neue soziale Norm in Großbritannien werden sollte. Damit haben die Briten an sich kein großes Problem, sie bestehen bekanntlich sowieso bei der Begrüßung nicht auf übermäßig engen Körperkontakt. Soziale Distanz wäre also kein großes Problem gewesen. Die Briten hätten durchaus auch andere Anweisungen zur Covid-Prävention befolgt. Schließlich stellen sie sich ja auch gerne an. Aber nein, für klare Regeln war diese Regierung nicht zu haben.

Klüngel bei Schutzkleidungen

Ein unbekömmlicher Mix aus libertinärem Draufgängertum und unernstem Schlendrian machte aus der Brexitinsel das Corona-Hauptquartier Europas. Die Covid-Infektionen waren Mitte April beängstigend angestiegen. Wochenlang hatten Ärztinnen und Krankenpfleger um Schutzkleidung gebettelt. Sie bekamen sie zu spät und in unzureichendem Ausmaß. Heute wissen wir, warum.

Die britische Regierung setzte eine VIP-Stelle für befreundete Unternehmer ein, die sich dort für die Produktion von Schutzkleidung bewerben konnten. Zehn Prozent der Bewerbungen wurden mit Millionenaufträgen beglückt, auch wenn manche dieser Firmen noch nie Schutzkleidung hergestellt hatten. Jene, die keine Kontakte zu Johnsons Ministern hatten, schickten Angebote, die oft monatelang unbeantwortet blieben – nur eine pro hundert Firmen wurde beauftragt. Dann erkrankte Boris Johnson. Ab da wendete sich das Blatt.

Mit Johnsons Erkrankung kam die Wende

Sobald der Regierungschef auf die Intensivstation des Londoner St.-Thomas-Spitals verlegt wurde, zitterte das ganze Land um sein Leben. Er überlebte dank eines Krankenpflegers aus Portugal und bedankte sich gemeinsam mit seiner Partnerin Carrie Symonds in einem Video bei seinem Helden Luis Pitarma. Das Video löste gemischte Gefühlen in mir aus. So sehr ich froh war, dass Pitarma zur Stelle war, um Johnson das Leben zu retten, so sehr war ich sprachlos über die Ironie, ja den Zynismus des Premierministers: Er war es schließlich, der mit seiner Brexitpolitik den künftigen Lebensrettern aus den EU-Staaten Arbeit in Großbritannien verwehren wollte.

Mein Nachbar, der Rabbiner, schickte mir am 29. April ein Foto von seinem neugeborenen Sohn, der am selben Tag wie Boris Johnsons fünftes oder sechstes Kind geboren worden war. (Johnson ist auch bei seinen Vaterschaften den Details nicht zugeneigt.) Ich war froh, dass alle Babys und Elternteile gesund nach Hause kommen konnten.

Vor- und Nachteile des Home Office

Das alles fand bei strahlender Sonne statt. Vielleicht hätten wir den Frühling nicht so gut überlebt, wenn das typische englische Wetter uns nicht im Stich gelassen hätte. Es regnete nicht mehr. März, April, Mai, Juni – in London schien die Sonne, als ginge es auch um ihr Leben. Wir lernten jeden Zentimeter in den Londoner Parks kennen. Die Umstellung auf Home Office war für mich nicht so drastisch wie für viele andere – ich arbeitete in den vergangenen 25 Jahren auch in Jerusalem, Brüssel und Moskau immer von zu Hause aus. Die Gesprächspartner aber erschienen jetzt nur noch auf meinem Computerscreen.

Vorbei die heiteren Hintergrundgespräche in den Gängen des House of Commons oder im Regierungsbezirk Whitehall beim Afternoon Tea oder über einem Pint im Pub. Ich war froh, dass ich nach zehn Jahren als London-Korrespondentin genug Kontakte hatte, die ich einfach anrufen konnte. Trotzdem änderte sich meine Arbeit. Einerseits waren Interviewpartner leichter zugänglich, die einsam in ihren Heimbüros saßen. Andererseits erzählt man sich auf Zoom nicht so leicht Geheimnisse, die später durchs Internet geistern können.

Ende des ersten Lockdown

Im Sommer entspannte sich die Lage etwas. Zu Hause hörten wir auf, wöchentlich für das Personal des öffentlichen Gesundheitsdienstes NHS zu kochen und wir klatschten auch nicht mehr jeden Donnerstag Abend für das Krankenpersonal. Die Lage in den Krankenhäusern hatte sich entspannt. Wir ließen uns zu ausgedehnten Picknicks mit Blick auf London im Hampstead Heath nieder. Wir begrüßten das normale Leben wie einen verlorenen Freund.

Boris Johnson wog sich schnell in Sicherheit und ließ jede Vorsicht fahren. Statt angesichts der enormen Herausforderungen der Coronapandemie bei der EU darum anzusuchen, das Ende der Übergangsfrist – also den Ausstieg aus EU-Binnenmarkt und Zollunion – um zwei Jahre zu verschieben, ließ er die Frist Anfang Juli ungenutzt verstreichen. Die Pandemie gönnte uns nur eine kurze Verschnaufpause. Erst im Juli wurden wir aus dem ersten Lockdown entlassen.

Gegenwind für Johnson

In Nordengland stiegen die Covid-Infektionen schon im August wieder dramatisch an. Regionale Coronamaßnahmen waren die Folge. Boris Johnson sah im Herbst 2020 zunehmend mitgenommen aus. Covid, die Nächte mit seinem neugeborenen Sohn und die Rebellion seiner Hinterbänkler – die von Brexitrextremisten zu Covidleugnern mutierten - zerrten an seinen Nerven. Für sein erstes Regierungsjahr musste er die größte Wirtschaftskrise seit 300 Jahren veranschlagen. Das war nicht allein seine Schuld. Die Coronapandemie ist im Gegensatz zum Brexit nicht von Boris Johnson verursacht worden.

Doch er hatte sich nie ernsthaft und früh genug mit den wissenschaftlichen Daten beschäftigt – seine Aufmerksamkeitsspanne reicht weder für die Struktur der Covidinfektionen noch für die Architektur des EU-Binnenmarktes. Über die Jahre scheint mir die Beurteilung dieses außerordentlichen Politikers immer schwieriger zu werden. Ist er ein Clown oder ein Betrüger – und was ist schlimmer in einer nationalen Krise?

Zweiter Lockdown im Herbst

Der zweite Lockdown im Herbst kam wieder zu spät und zu unentschlossen. Welcher Regierungschef sperrt schon gerne die Wirtschaft zu? Boris Johnson zögerte zwar nicht in Nordengland mit scharfen Maßnahmen, in der Hauptstadt London mit neun Millionen Einwohnern und einer finanzkräftigen City aber schon. In Deutschland  stiegen die Covid-Infektionen im Oktober und November auch in bedenkliche Höhen, es schien, als ob kein Land das Virus besiegen konnte.

In London wurden die Restaurants innerhalb von wenigen Wochen auf- und zugesperrt. Ich machte meine Yoga-Stunden auf Zoom von meinem Wohnzimmer aus und versuchte, tief durchzuatmen. Als Boris Johnson verkündete, dass drei Haushalte in Ruhe Weihnachten feiern konnten, freuten wir uns. Viele hatten ihre Familien monatelang nicht gesehen. Ein Freibrief zu Weihnachten schien wie ein Sieg über das Coronavirus. Doch so ist es mit dem Populismus. Er orientiert sich an Meinungsumfragen, nicht an wissenschaftlichen Erkenntnissen und an Fakten.

Mitte Dezember war längst klar, dass nur eine Maßnahme die Coronapandemie im Winter ernsthaft eindämmen konnte: ein nationaler Lockdown. So furchtbar das für viele Läden und Geschäftstreibende, Arbeiter und Angestellte ist – die Alternative sind überlastete Gesundheitssysteme. Im Klartext: „Populism kills“. Oder in einer etwas komplizierteren deutschen Übersetzung: Populismus kann ihre Gesundheit gefährden. Und tödlich sein. Boris Johnson aber schlug noch am Mittwoch vor der Weihnachtspause des Unterhauses bei den Prime Minister’s Questions großmäulig und gefährlich unwissenschaftlich um sich: „Der Oppositionsführer will Weihnachten absagen!“, höhnte er Labour-Chef Keir Starmer entgegen, der ihn aufgefordert hatte, die Corona-Maßnahmen den Infektionszahlen anzupassen.

Weihnachten abgesagt

Am 19. Dezember gab Boris Johnson den bedrückenden Realitäten doch nach und sagte Weihnachten ab: Man dürfe sich nicht besuchen. Es gebe eine aggressive Variante des Covidvirus, die sich zu 70 Prozent schneller verbreitete als das Virus bisher. Besondere Vorsicht sei geboten. Ein englischer Virus?, dachte ich, wie seltsam. Gibt es nicht ständig Mutationen dieser ansteckenden Weltplage? Kaum war die Nachricht draußen, sperrten die meisten europäischen Staaten auf der anderen Seite des englischen Kanals ihre Flughäfen und Häfen. Frankreich sperrte Calais erst einmal für 48 Stunden.

Transportminister Grant Shapps zeigte sich „überrascht“ über die harsche Reaktion auf die Nachrichten von der Pestinsel. In der Tat, die Antwort der EU auf den englischen Virus war drastisch. Die Briten hatten nicht damit gerechnet, dass sie mit dem Austritt aus der EU nicht mehr mit dem partnerschaftlichen Umgang der EU-Staaten rechnen konnten.

Bilder von endlosen LKW-Schlangen

Vor Dover standen innerhalb von wenigen Stunden tausende Lastwagen, die sich nicht mehr durch das Nadelöhr Dover drücken ließen. Was der Brexit nicht geschafft hatte, erledigte Covid mit links. Den britischen Konsumenten wurde plötzlich bewusst, wie verletzlich ihre Inselwirtschaft ist. Ein großer Teil der Nahrungsmittel kommt aus dem Ausland, ein Gutteil aus der EU.

Die Bilder von den endlosen LKW-Schlangen wirkten auf Boris Johnson. Am 21. Dezember unterbreitete er ein Angebot für ein Freihandelsabkommen an die EU, auf das wir seit Monaten gewartet hatten. Der Brexit, dieses englisch-nationalistische Triumphprojekt der Souveränität und Grenzkontrolle, schrumpfte auf die Frage ein, wie lange die Übergangsfrist bei den Fischereirechten dauern sollte und wie viel französische und andere europäische Fischer in britischen Gewässern auch in Zukunft noch fischen dürfen. Am Ende ging es um Fische im Wert von 60 Millionen Euro.

Essenspakete für hungrige britische Kinder

Dem Vereinigten Königreich steht ein harter Winter bevor. Zum ersten Mal in seiner Geschichte spendet das UN-Kinderhilfswerk UNICEF in diesen Weihnachtsferien hungrigen britischen Kindern Essenspakete. Das ist für die sechstgrößte Wirtschaftsnation der Welt eine Blamage.

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